Psychiariereform angemahnt: Flexibilität statt Fixierung
Bremen braucht eine Psychiatriereform, sagen Koalitions- und Oppositionspolitiker - die Experten sowieso. Regional-Budgets sollen die Ambulantisierung erleichtern.
Die UNO macht’s möglich: In Bremen gibt es, nach längerer Stagnation, wieder Bewegung in Sachen Psychiatrie. Im April beschloss die Bürgerschaft, die neue UN-Behindertenrechtskonvention vor Ort durchzudeklinieren – mit erheblichen Folgen für den Psychiatrie-Bereich. Zwangsmedikationen würden jetzt kaum noch genehmigt, sagt Detlef Tintelott, selbst Psychiatrie-erfahren und nun offizieller „Patientenfürsprecher“ im Klinikum Ost. Auch „Fixierungen“, das Fesseln der Patienten ans Bett, seien deutlich seltener.
Weitere Struktur-Verbesserungen müssen angepackt werden – einig sind sich CDU und Koalition etwa in der Flexibilisierung der Bezahlsysteme. In Bremen-Nord gibt es nun ein Sucht-Projekt, bei dem erstmals Entgiftung und Entwöhnung von einer Institution angeboten werden – dem Patienten also personelle Kontinuität bietet. Das erfordert ein kooperatives Umdenken: Die Entgiftung wird von den Kranken-, die Rehabilitation aber von den Rentenkassen getragen.
Generell gilt: „Derzeit muss man muss sich erst in ein Bett legen, damit man behandelt wird“, sagt Peter Kruckenberg, der das System als früherer ärztlicher Leiter des Klinikums Ost das System bestens kennt. „Die Bindung der Behandlungs-Finanzierung an die Bettenbelegung ist nicht mehr zeitgemäß“, bestätigt Martin Bührig vom Psychiatrischen Behandlungszentrum Bremen-Nord, das 2003 aus Ost ausgelagert wurde. Auch kostenmäßig empfehle sich die Umstrukturierung hin zum in Finnland entwickelten home treatment: Ein Klinikbett kostet pro Nacht 278 Euro, die ambulante Versorgung, je nach Rechenmodell, in etwa ein gutes Drittel dieser Summe. Zudem belegen Studien eine deutlich geringere Rückfall-Quote von Patienten, die ihr soziales Umfeld nicht verlassen mussten.
Die CDU-Abgeordnete Sigrid Grönert, selbst in der psychosozialen Notfallversorgung tätig, hat den einstimmigen Bürgerschaftsbeschluss zur regionalen „Runterbrechung“ der UN-Konvention initiiert. Jetzt ist sie sich mit den Regierungsfraktionen einig, dass Regional-Budgets Bewegung in die Versorgungslandschaft bringen können. Dieses Modell wird derzeit in Geesthacht erprobt. Ein Ergebnis der neuen finanziell-konzeptionellen Freiheit: Die Manpower einer kompletten Krankenhaus-Station konnte von der Klinik weg auf die ambulante Betreuung verlagert werden.
Ein noch ungelöstes Problem sind die häufig in Kliniken praktizierten Ressourcen-Umwidmungen zugunsten der somatischen Abteilungen. „Dort werden gesetzeswidrig Löcher gestopft, obwohl die Mittel den Psychiatriepatienten zustehen“, klagt Kruckenberg. Tintelott schildert die Folgen als dramatisch: „Ost wird langsam zu einer Verwahranstalt.“
Die grüne Gesundheits-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther, die als Fachärztin 2001 selbst eine psychiatrische Ambulanz in Bremen aufbaute, ist dennoch optimistisch. Bremen, sagt sie, habe derzeit die Chance auf eine „Psychiatriereform 2.0“.
Leser*innenkommentare
Rainer Nathow
Gast
Eine "Psychiatriereform 2.0" ist eine Idee, mit der die erste Reform verhöhnt wird: die erste Psychiatriereform der 80-er Jahre ist seit den 90-er Jahren in weiten Teilen rückgängig gemacht worden, so in der zentralen Frage, ob ambulante Behandlung neben der stationären eine eigenständige und gleichberechtigte Rolle spielen soll. Das war ein zentrales Ziel der ersten Reforn, das war in Form des Sozialpsychiatrischen Dienstes weitgehend durchgesetzt und umgesezt und dann auf Druck der niedergelassenen Ärzte zurückgenommen worden - während der Chefarztperiode von Prof. Dr. Peter Kruckenberg, dem Mitbegründer des ambulanten Sozialpsychiatrischen Dienstes, der nun eine zweite Reform fordert. Der ambulante Sozialpsychiatrische Dienst existiert nur noch rudimentär, die Ambulanzen sind zu Teilen der Klinik gemacht worden ("Institutsambulanzen")und arbeiten nach deren Logik und deren Vorgaben. Aber so funktioniert eben Psychiatrie, nicht nur in Bremen.