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Freiheit bringt keinen Trost

Auf Tour im Bandbus: Einst galten Keimzeit als Grateful Dead des Ostens. Der Westen nahm sie jedoch vor allem als soziales Phänomen wahr. Eindrücke von einer Konzertreise durch ostdeutsche Lande

Es funktionierte nicht, die Party mit in den Westen zu nehmenDie Veränderungen nahmen die altgedienten Fans nicht gut auf

von THOMAS WINKLER

Die Heldenstadt empfängt unsere Helden mit grauem Nieselregen und hektischem Feierabendverkehr. Und die Geschäftsleitung des Saturn im Hauptbahnhof Leipzig mit belegten Brötchen und Weintrauben. Man möge vorab doch noch schnell ein paar Autogramme schreiben für die Belegschaft, bittet der Filialleiter, 20 Stück an der Zahl. Fortan klappern Kaffeetassen, wandern Autogrammkartenstapel quer durch das kleine Hinterzimmer, und über der leicht unwirklichen Szenerie liegt eine seltsame, wenn auch nicht unangenehme Sprachlosigkeit. Nur hie und da fällt ein Satz. Man versteht sich auch so, schließlich kennt man sich schon lange, zum Teil schon ein ganzes Leben.

Dieser Tage feiern Keimzeit, dass es sie gibt seit nunmehr 20 Jahren. Obwohl: Feiern ist nicht ganz das richtige Wort. Keimzeit haben, wie das Rockbands so zu tun pflegen, zum Jubiläum eine neue Platte herausgebracht, die „1000 Leute wie ich“ heißt. Und wie andere Rockbands auch sind Keimzeit auf Tournee, um diese Platte bekannt zu machen. Nur: Keimzeit sind keine Rockband wie andere.

Nein, Keimzeit sind in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem identitätsstiftenden Symbol des Ostens gewachsen. Der Berliner Tagesspiegel ernannte sie dereinst zur „Kultband“, der Spiegel entlarvte sie als Teil eines „letzten spezifischen Stücks Ostjugendkultur“, und Tempo erkor Sänger und Songschreiber Norbert Leisegang bereits vor knapp zehn Jahren zum „kumpelhaften Messias“. Jeder in Sachsen und Brandenburg, Thüringen oder Mecklenburg hat schon mal gehört von Keimzeit, manch einer kann Leisegang’sche Textzeilen rezitieren, und jeden Festsaal noch in der abgelegensten Häuseransammlungen haben sie bereits bespielt.

Nun geht es im Gänsemarsch durch den Saturn, die Treppe hinunter auf den Bahnsteig. Dort ist vor dem Laden eine kleine Bühne aufgebaut, auf der werden unsere Helden Bandfotos und CDs signieren. Aus Lautsprechern schallen ihre Songs über den Bahnsteig, die Massen strömen in recht übersichtlicher Zahl und bilden eine vorbildliche Schlange, um sich ihr Autogramm abzuholen.

„Wir versuchen, ein neues Haus zu bauen“, sagt Dirk Tscherner und meint damit, dass Keimzeit heute keine Kultband mehr sein wollen, die gehört wird, weil sie aus dem Osten kommt. Stattdessen möchte man eine Rockband sein, die gehört wird wegen ihrer Musik. „Erklärtes Ziel ist es, sich nicht zu beschränken auf das Gebiet zwischen Rostock und Chemnitz“, sagt Tscherner, Manager von Keimzeit seit 1995 und Konstrukteur dieser Wandlung.

Es gab mal eine Zeit, Anfang der 90er-Jahre, da hätten Keimzeit niemals Autogrammstunden gegeben. Damals nannte man sich selbst offensiv „Ostband“, residierte stolz in kleinen Käffern rund um das brandenburgische Belzig und weigerte sich, im Fernsehen aufzutreten. Stattdessen gab man fünfstündige Konzerte, spielte auf Zuruf die halbe Popgeschichte nach, feierte anschließend mit dem Publikum weiter und bettete schließlich das Haupt am Ostseestrand. Oder fragte während des Auftritts in die Runde, welcher Anhänger ein Bett zu Hause frei habe. Fans reisten ihnen von Auftritt zu Auftritt hinterher, gerne wurden sie mit Grateful Dead verglichen. Perfekt ins Bild von der großen Familie passte die Tatsache, dass drei Brüder das Herz der Band bilden. Roland Leisegang am Schlagzeug und Hartmut am Bass liefern bis heute das rhythmische Grundgerüst, über dem Norbert stets leicht klagend seine metaphernreichen Texte singt, welche die Sehnsüchte der neuen Bundesbürger in Worte fassten. Mit Zeilen wie „Bloß von hier weg, so weit wie möglich“ wurde der Song „Kling Klang“, obwohl nie als Single erschienen, zu einem Hit, der bis heute immer wieder von ostdeutschen Radios gesendet und bei Konzerten vehement vom Publikum gefordert wird.

Damals absolvierte die Band ein Dutzend Auftritte pro Jahr in Thüringen, und alle waren voll. Aber die Zeiten änderten sich, die Fans wurden älter, die Band auch. Drei des Sextetts sind längst Familienväter. Seit vier Jahren nun übernachtet man in Hotels. „Es gab einen Punkt“, sagt Saxofonist Ralf Benschu über die Tage, in denen das wichtigste Tourutensil ein Schlafsack war, „da hat das genervt.“

Parallel dazu scheiterten die Versuche der Band, sich in den alten Bundesländern zu etablieren, so Tscherner, „weil es nicht funktionierte, die Party mit in den Westen zu nehmen“. Zwar fand man schnell nach der Wende eine große Plattenfirma, aber die Verkäufe blieben marginal. Immer noch ist „Bunte Scherben“, das dritte Album von 1993, mit 80.000 Stück das am besten verkaufte der Band. Im Westen wurde das noch zu DDR-Zeiten von der Kulturleitung als „hervorragend“ eingestufte „Amateur-Tanzorchester“ stets nur als Phänomen wahrgenommen. Ihre Musik spielte in der Berichterstattung kaum eine bis gar keine Rolle. Man war in die Identifikationsfalle getappt, der Markt zu klein, und so ist es bis heute, erzählt Tscherner, „sehr schwierig im Westen mit dem Namen ‚Keimzeit‘ auf offene Ohren zu stoßen“. Morgen, verkündet ein Plakat, ist wieder Autogrammstunde im Leipziger Saturn. Diesmal mit Jürgen, Zlatkos Kumpel aus der ersten Big-Brother-Staffel. Der Filialleiter beteuert, ein wenig Verzweiflung in der Stimme, er habe es nicht gewollt.

Die Entscheidung, Keimzeit auf den Weg zu bringen, endgültig in dieser Republik anzukommen, fiel Mitte der 90er-Jahre. Es galt, so Tscherner, „die Band aus ihrem Kokon herauszuholen“. Seitdem wurde das geschäftliche Umfeld komplett ausgetauscht und konsequent professionalisiert. Erstmals suchte man sich einen Produzenten und fand ihn mit dem Hamburger Hans Plasa, der mit Selig und Echt reüssiert hatte und den mitunter etwas biederen Folkrock von Keimzeit mit elektronischen Klängen erweiterte. Im Gespräch mit Norbert Leisegang fallen als Bezugspunkte mittlerweile Bandnamen wie Wilco, Moloko, Coldplay oder Radiohead. „Mitte der 90er“, erzählt er, „hatten wir die Marktgesetze begriffen.“ Fortan wollte man „keine Endlospartys mehr, sondern lieber ein musikalisch gutes Konzert“. Mittlerweile hat man auch die alte Plattenfirma verlassen und bringt das neue Album heraus auf dem in Köln beheimateten Label Pirate Records, das zum großen Teil dem Comedystar Micha Mittermaier gehört. In manchen westdeutschen Städten, in Hamburg oder München, spielt man mittlerweile vor mehr als 500 Menschen.

Die Veränderungen wurden von den altgedienten Fans nicht gut aufgenommen. „Erwartungshaltungsenttäuschung“ nennt Norbert das: „Viele waren entrüstet, als wir uns Hotels nahmen, ohne zu merken, dass sie selbst in Betten schliefen und Zeltplätze mittlerweile verabscheuten. Eine Menge der Leute hat sich schlagartig abgewandt.“ Neben der musikalischen Öffnung begann Leisegang zudem, die Metaphern in seinen Texte einzudämmen. Statt weiter das in der DDR-Kultur geprägte Lesen-zwischen-den-Zeilen zu bedienen, wurde seine Lyrik nun persönlicher: „Jeder Versuch, noch mal so kindliche Texte zu schreiben, ging nach hinten los. Das war nicht mehr charmant.“

Die Mutation war auch innerhalb der Band durchaus eine schmerzhafte. Es gab Zeiten, in denen „alle zwei Wochen jemand aussteigen wollte“, erzählt Norbert. Zweimal nahm man sich halbjährige Auszeiten, aber blieb zusammen. Selbst das Nesthäkchen, Keyboarder Andreas Sperling, den alle „Spatz“ rufen, ist nun bereits seit neun Jahren dabei. „Man muss einen langen Atem haben“, sagt Norbert.

Nach einer Dreiviertelstunde Auogrammeschreiben geht es im bandeigenen, von LocalEnergy gesponsorten Kleinbus 45 Kilometer gen Süden. In Altenburg, einem 40.380 Einwohner zählenden Städtchen im äußersten Nordosten Thüringens, wurde vor bald 200 Jahren das Skatspiel erdacht. Heute heißen Kneipen dort „Zum Schluckspecht“, und auf Keimzeit wartet eine kalte Schulturnhalle aus der Gründerzeit, die „Music Hall“ genannt wird, und zum zweiten Mal an diesem Tag belegte Brote. Käsescheiben lassen traurig die Ecken hängen. Die drei Techniker haben bereits Equipment und Instrumente ausgeladen und aufgebaut. Die Band ist spät dran, es wird knapp mit dem Soundcheck. Der Veranstalter drängelt, er will die Türen öffnen, die Wartenden draußen werden langsam unruhig. Später wird im kleinen Backstageraum auf Papptellern Gulasch mit Kartoffeln und Mischgemüse serviert. Keiner weiß so recht zu sagen, wie oft man schon hier gespielt hat. Wohl drei-, viermal in dieser Halle, in Altenburg insgesamt vielleicht 30-mal, schätzt Manager Tscherner. Niemals, sagt Trommler Roland, der jüngste Leisegang, höchstens halb so oft. Obwohl kaum ein Plakat in Altenburg von Keimzeits Ankunft kündete, füllt sich die Halle schnell. Die allermeisten sind zu jung, um die Band aus DDR-Zeiten kennen zu können. Wein wird in der Music Hall auch in Halbliterbechern ausgeschenkt.

Auf der Bühne sind Keimzeit eine gut geölte Maschine. Die Leisegang’sche Rhythmuscombo organisiert einen dichten Teppich, über dem sich ein souveränes Geflecht aus Folklore-, Jazz- und Hardrock-Einflüssen ausbreiten darf. Zurufe aus dem Publikum kontert Norbert in einer Mischung aus Genervtheit und Galgenhumor: „Ja, wir spielen auch noch ‚Kling Klang‘. Sonst noch irgendwelche Wünsche? Wir können auch Stücke von Nana Mouskouri spielen.“ Zunehmend lässt sich das Publikum ein, begrüßt zwar weiter freudig die alten Hymnen, aber ignoriert die Songs von „1000 Leute wie ich“ auch nicht. „Die Freiheit bringt mir keinen Trost“, heißt es in einem dieser neuen Lieder.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Keimzeit geht wie der PDS. Der Weg in den Westen wurde zu einem Weg in die Normalität. Ob Band oder Partei, als man nicht mehr in erster Linie ein Identifikationspotenzial anbieten wollte, verlor man einen guten Teil seiner Faszination. „Ich glaube, dass wir bestimmten Leuten nicht mehr das geben, was sie bräuchten“, sagt Norbert, „aber ich will keine Nostalgieshow geben und keine Ostband-Identifikationsmaschine sein.“

Nach dem Auftritt leert sich der Saal schnell. Nur wenige bleiben. Die Band mischt sich ins Restpublikum wie immer. Wie früher. Saxofonist Ralf plaudert mit einer alten Freundin, die aus Gera angereist ist. Norbert bekommt eine gewaltige Flasche Slibowitz geschenkt, liebevoll verpackt in braunes Packpapier. Er wird zurück nach Leipzig fahren, sei auf eine Party eingeladen, erzählt er. Sein Hotelbett bleibt heute leer. Für den Rest geht es im Bandbus morgen weiter nach Dresden. Dort warten ein paar tausend auf den Auftritt von Keimzeit. Und ein paar Flutopfer, deren Heizung dem Hochwasser zum Opfer gefallen ist, auf einen Ölradiator. Den hat Gitarrist Ulle Sende noch in Potsdam eingeladen für Verwandte. Seitdem hat er die Reise im Bandbus durch Brandenburg und Thüringen bis nach Sachsen mitgemacht. Morgen wird ein Ölradiator eine neue Heimat finden.

Keimzeit: „1000 Leute wie ich“ (Pirate/Sony); „Das Beste bis jetzt“ (BMG Berlin). Live: 24. 10. Regensburg, 25. 10. Bamberg, 26. 10. München, 30. 10. Dessau (wird fortgesetzt)

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