Frauenfußball in der Schweiz: Voran im Schneckentempo
Die Schweizer reden mehr über den Frauenfußball. Ob die Meisterschaft langfristig die Sportart voranbringt oder nur kurzfristig hypt, bleibt die große Frage.
Marianne Meier ist beeindruckt. Es wird dieser Tage in der Schweiz so viel wie noch nie über Fußballerinnen gesprochen. Allein die herannahende Europameisterschaft hat schon einiges in Bewegung gebracht. Straßenbahnen, erzählt die Historikerin von der Universität Bern, fahren in Basel, Genf, Bern und Zürich ganz ins Turnierlogo gehüllt durch die Städte. Eine öffentliche Schnitzeljagd wurde gestartet, um die Namen der nominierten Spielerinnen, die mit Hinweisen versteckt wurden, häppchenweise zu verkünden. Ähnlich wurde dies bei der Männer-EM 2024 vom DFB inszeniert.
Wie selbstverständlich, berichtet Meier, würden in Gesprächen Namen von Schweizer Nationalspielerinnen fallen, die vor kurzer Zeit kaum jemand kannte. Selbst die Pionierinnen, denen über Jahrzehnte mit größter Ignoranz begegnet wurde, erfahren plötzlich späte Anerkennung. Das öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen (SRF) hat die mehrteilige Doku „Kick it like Trudy“ herausgebracht. Trudy Moser hatte 1968 mit ihrer Schwester Ursula mit dem Damenfußballclub Zürich den ersten offiziellen Verein für Frauen und Mädchen in der Schweiz gegründet. Nun schnürten die Wegbereiterinnen von einst für die Doku gar wieder ihre Fußballschuhe für ein kurzes Match mit Nachwuchsspielerinnen.
Die Würdigung der Pionierinnen ist Meier ohnehin ein großes Anliegen. Ihre Studiumsabschlussarbeit hat sie bereits 2004 dem Thema gewidmet. Vor der EM hat sie mit Monika Hofmann noch einmal tiefer und breiter geschürft. Ihr gerade erschienenes Buch zur Geschichte des Schweizer Frauenfußballs wurde vergangene Woche in der Schweizer Hauptnachrichtensendung „Tagesschau“ besprochen.
Viel mehr Aufmerksamkeit geht nicht. Und doch bleibt Marianne Meier vorsichtig. Zu viel weiß sie über die Beschwerlichkeiten des Schweizer Weges: „Ob das Turnier nur wie ein Durchlauferhitzer wirkt oder nachhaltige Effekte hat, muss man abwarten.“ Die Erwartungen im Land an das eigene Team seien wegen der vermeintlich leichteren Gruppengegnerinnen (Norwegen, Island, Finnland) enorm hoch.
Die Zuversicht lässt sich nicht durch die jüngsten Ergebnisse begründen. Erst vergangenen Donnerstag, im Testspiel gegen die Tschechinnen, die sich nicht für die EM qualifiziert haben, konnte nach zuletzt acht sieglosen Spielen der erste Erfolg (4:1) gefeiert werden. Ein weiterer Rückblick kann sowieso nicht optimistisch stimmen. Zwar konnte sich die Schweiz erstmals 2017 für die Europameisterschaft qualifizieren und war auch beim Turnier 2022 dabei, über die Vorrunde aber schaffte man es jeweils noch nie hinaus.
Kaum staatliche Förderung für die EM
Die Gleichzeitigkeit von Weiterentwicklung und Rückständigkeit hat den Schweizer Frauenfußball nur im Schneckentempo vorankommen lassen. Beispielhaft dafür ist die Entscheidung des Schweizer Bundesrats Anfang 2024, das EM-Turnier der Frauen mit nur 4 Millionen Schweizer Franken zu fördern, die auch noch durch die Streichung anderer Sportprogramme zusammengestückelt werden sollten. Für das EM-Turnier der Männer 2008, bei dem die Schweiz nur Co-Gastgeber war, flossen noch 82 Millionen von staatlicher Seite. Weil die öffentliche Empörung über diese Schräglage so groß war, erhöhte der Nationalrat die Unterstützung für die Frauen-EM auf 15 Millionen Schweizer Franken. „Den Organisatorinnen und Organisatoren der EM hätte nichts Besseres passieren können“, sagt Meier. Wären sofort 15 Millionen Schweizer Franken bewilligt worden, hätte damals kaum jemand über die EM gesprochen.
Diese kollektive Empörungserfahrung könnte weit über die EM von Bedeutung sein. Breite Entrüstung über die Ungleichbehandlung von Fußballerinnen, das ist ein neues Phänomen in der Schweiz. In den 1960er Jahren hatte man sich noch wie vielerorts in Europa darüber empört, dass Frauen Fußball spielen wollen. Der Deutsche Fußball-Bund unterband dies mit einem offiziellen Verbot von 1955 bis 1970. In der Schweiz ging man dezenter über einen Einzelfallentscheid vor.
Die zwölfjährige Madeleine Boll wurde 1965 zur ersten lizenzierten Fußballspielerin der Schweiz, weil der Antrag ihres Trainers beim FC Sion versehentlich durchging. Als die hoch begabte Fußballerin bei einem Junioren-Vorspiel zu einer internationalen Männerpartie des Vereins gegen Galatasaray Istanbul mitmischte und eine Welle von Medienberichten auslöste, annullierte der Schweizer Fußballverband (SFV) flugs ihre Lizenz. Die Begründung, erzählt Meier, sei bemerkenswert gewesen. Im Spielreglement, hieß es, wäre nur von Spielern und nicht von Spielerinnen die Rede. Plötzlich rückten die Funktionäre vom damals allgemein geltenden Verständnis ab, mit der männlichen Form seien alle Geschlechter gemeint. Anderen Pionierinnen, wie etwa die Geschwister Stahel aus dem Kanton Aargau, wurde später die Aufnahme im SFV mit Verweis auf den Fall Boll verweigert.
Weil es an Schiedsrichtern fehlte, eröffnete der SFV Fußballerinnen die Möglichkeit, doch Unparteiische zu werden. Ein Angebot, auf die neutrale Seite zu wechseln – auch das war eine besondere Lösung schweizerischer Prägung. Einige ließen sich in der aussichtslosen Lage dazu überreden. 1966 berichteten Medien über diese ersten offiziellen „Pfeifendamen“ in der Schweiz.
Meisterinnen sind die … Young Boys
Der erste informelle Verein, der FC Goitschel, wurde 1963 im Kanton Aargau gegründet. Und der Sportjournalist Pierre Tripod schrieb damals: „Da sie kein Stimmrecht haben, spielen junge Frauen in diesem Aargauer Dorf eben Fussball. Man drückt sich halt so aus, wie man kann.“ Auch noch vor Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz auf Bundesebene (1971) kam es zur inoffiziellen Länderspielpremiere im November 1970 gegen Österreich. Im selben Jahr hatte sich bereits ein selbstverwalteter Verband gebildet, der dem SFV unterstellt war. Die Frauen machten ihr eigenes Ding ohne nennenswerte Unterstützung ihrer Kontrolleure.
Die offizielle Länderspielpremiere folgte 1972 gegen Frankreich – zehn Jahre bevor es in der BRD so weit war. In der DDR war den Frauen das Fußballspielen nie verboten, das erste Länderspiel wurde aber erst 1989 organisiert. So betrachtet liest sich die Entwicklung des Schweizer Frauenfußballs dieser Jahre fast schon progressiv.
Dass dabei die populäre Skirennfahrerin Marie-Theres Nadig, die 1972 zwei olympische Goldmedaillen gewonnen hatte, eine besondere Rolle spielte, gehört auch zu den regionalen Besonderheiten der Geschichte des Schweizer Frauenfußballs. Die Organisatoren in Basel schätzten, dass die Hälfte der gut 4.000 Zuschauer bei der Länderspielpremiere wegen Nadig gekommen war, die bei einem Vorspiel mitkickte. „Nadig hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass der Frauenfußball in dieser Zeit an Akzeptanz gewann“, sagt Historikerin Meier. Der 1963 gegründete FC Goitschel war übrigens nach den französischen Skirennfahrerinnen Marielle und Christine Goitschel benannt, die in ihrer Freizeit auch Fußball spielten.
Doch warum haben die Schweizer Fußballerinnen trotz vergleichsweise günstiger Ausgangsvoraussetzungen den Anschluss verloren? Meier hat einen Grundwebfehler ausgemacht. „Bis heute“, sagt sie, „hängt die Entwicklung des Fußballs der Frauen zu sehr von einzelnen Führungspersonen im SFV ab. Es fehlt an einem gemeinsamen Selbstverständnis, einer Vision, was dem Verband der Fußball der Frauen wert ist.“
Insbesondere im Ligabetrieb gebe es einen großen Nachholbedarf. Die Akteurinnen dort seien immer noch mit erstaunlichen Zuständen konfrontiert. So berichtet Lara Dickenmann, die zweimal die Champions League gewann und achtmal zur besten Fußballerin der Schweiz gewählt wurde, in einem Interview für das Buch von Marianne Meier, wie sie bei ihrem Arbeitsbeginn als Managerin des Frauenteams der Grasshoppers Zürich 2021 eine Art „Besenkammer mit Dusche“ als Arbeitsraum zur Verfügung gestellt bekam. Und sogar dafür musste sie kämpfen. Ihren Mantel und ihre Tasche habe sie erst einmal auf den Boden legen müssen.
Zu den Spielen der Women’s Super League kamen in der vergangenen Saison im Schnitt knapp 600 Zuschauer. Der Großteil des EM-Kaders (14) spielt eh im Ausland. Doch auch aus der Liga gab es zuletzt positive Entwicklungen zu vermelden. Vor gut 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauern wurde im Berner Wankdorfstadion im Mai das Finalspiel der Saison ausgetragen. Die Gastgeberinnen haben gegen die Grasshoppers gewonnen. Neue Meisterinnen sind die Young Boys Frauen. Auch das gehört zu den Besonderheiten des Schweizer Fußballs.
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