piwik no script img

Frankreichs VorschulenParadies mit strengem Lehrplan

Paris gilt als die Stadt der Verliebten. Wer mit den Konsequenzen daraus lebt, kratzt am Mythos des kinderfreundlichen Frankreichs. Denn dort geht es viel preußischer zu als man glaubt.

Extrawürste für die Kinder? Gibt es in französischen Vorschulen nicht. Bild: ap

PARIS taz "Und was arbeitet Monsieur?" Ich? Tja. Kochen? Einkaufen? Putzen? Waschen? Handwerker dirigieren? Drei Kinder in Schulen oder Kindergärten bringen, abholen, trösten, dolmetschen, Hausaufgaben kontrollieren, den Fuhrpark aus Fahrrädern, Rollern und Dreirädern warten, Fußbälle flicken, erste und zweite Hilfe leisten? Nein, all' das will Madame S. nicht hören. "Ich bin Journalist. Ich arbeite zu Hause". Unsere Vermieterin gibt sich zufrieden. Verdächtig machen wir uns trotzdem.

In Berlin waren wir die typischen Rabeneltern. Unsere Kinder gingen in die Kindertagesstätte, sobald sie ersten Geburtstag gefeiert hatten. Meine Frau und ich arbeiteten auf je einer halben Stelle. In Frankreich sind wir allemannische Weicheier, die ihre Kinder verzärteln. Anders als unsere Nachbarn vertrauen wir unseren Nachwuchs nicht früh bis andend dem Staat an. Anders als unsere Nachbarn haben wir die Betreuung nicht an eine afrikanische Nounou abgetreten. Wir machen selbst. Und fallen schon wieder aus der Rolle.

Meine Frau arbeitet rund um die Uhr, ich bin zu Hause. Sie verdient das Geld. Ich gebe es wieder aus. Das ist nicht schwer in einer Stadt, wo im Supermarkt das Kilo Nicht-Bio-Äpfel vier Euro kostet. Und wo als zärtliche Anrede "ma chère" gilt - meine Teure.

Paris ist die Stadt der Verliebten. Wer dieses Stadium hinter sich gebracht hat und mit den Konsequenzen daraus lebt, auf den wartet eine harte Landung. Sprechen deutsche Bildungs- und Rentenpolitiker über Frankreich, nimmt der Lobgesang kein Ende: Fast alle französischen Kinder zwischen drei und fünf besuchen die Ecole Maternelle, die Vorschule. Frauen mit einem Kind arbeiten ebenso häufig wie Kinderlose, und auch bei größeren Familien deutlich häufiger als in Deutschland. Rundum-Betreuung der Kinder ist garantiert. Die Geburtenzahlen geben den Planern recht: Während eine deutsche Frau im Durchschnitt nur 1,3 Kinder bekommt, sind es in Frankreich ganze 2,1 Kinder. 2050, so haben es die Franzosen errechnet, sind sie die plus grande nation in Europa. Frankreich gilt in punkto Kinderfreundlichkeit als das Paradies.

Jedes Paradies hat seinen Erzengel. Unser heißt Louise und steht am Eingang zur Ecole maternelle. "Bonjour, ca va bien?" begrüßt sie Eltern, die morgens ab 8.20 Uhr ins Haus hasten, den Kindern die Jacken herunterreißen, sie schnell küssen und in ihre Klasse schubsen, damit sie wieder draußen sind, wenn die Türen sich schließen. Dort parken sie mit laufendem Motor in dritter Reihe. Dann rasen sie weiter, um das nächste Kind abzugeben. Oder zur Arbeit ins Erziehungsministerium, wo sie neue Pläne schmieden, wie man die Betreuungszeiten an den Schulen ausdehnen kann.

Rummms, die Tür fällt zu. Drinnen lernen die Kinder: Still zu sitzen. Nicht dazwischen quatschen. Die Bücher nach dem Lesen wieder ins Regal stellen. Zum Halbjahr bekommen sie ein Zeugnis, in dem ihre Lernfortschritte in 60 verschiedenen Kategorien mit 1, 2 oder 3 bewertet wird. Auch Vierjährige legen sich mittags für eine Stunde zum Schlafen hin - selbst wenn sie nicht müde sind und deshalb nachts bis 23 Uhr hellwach bleiben. Auf den Hof gehen sie in Zweierreihen - händchenhaltend. Wenn sie einen Ausflug in den Wald machen, schwärmen nur die Kinder der angeblich autoritätsfixierten Preußen unkontrolliert durchs Unterholz. Der Nachwuchs der rebellischen Gallier bleibt brav auf den Wegen.

In der Ecole Maternelle gibt es eine Küche, aber Extrawürste stehen hier nicht auf dem Speiseplan. Wer seinem Kind eine eigene Wasserflasche mitgibt, damit es zwischendurch mal was trinkt, scheitert an der Lehrerin: Getrunken wird beim Essen und sonst nicht! Unsere Tochter Tina, die zum Anfang kein Wort französisch sprach, wurde ohne Probleme aufgenommen - aber die Eingewöhnung der Vierjährigen in die fremde Umgebung, die fremde Sprache, die fremden Kinder und Erzieherinnen sah so aus: Küsschen, Tschüsschen, Tür zu. Papa kommt in drei Stunden wieder. Inzwischen ist Tina, die in Deutschland gern ihren Dickkopf durchsetzte, lammfromm. Sogar beim Pinkel fragt sie um Erlaubnis: "Es-ce que j'ai le droit d'aller au toilette?"

Frankreich mutet seinem Nachwuchs einiges zu. Aber das Zutrauen in die Kinder ist nicht besonders groß. Auf der Place des Etats Unis vergnügen wir uns auf dem Klettergerüst. Die Rutsche, die Treppe, das Kletternetz sind auch für Stan, zwei Jahre alt, kein Problem. Doch ein Schild warnt mich: Gerüst freigegeben erst ab vier Jahren! Nebenan fällt dem dem Kind im Sandkasten der Keks aus der Hand. Ehe es danach greifen kann, ist Maman zu ihm gesprintet und tritt den Keks einen halben Meter tief unter die Oberfläche: Mon Dieu! Da könnte Dreck dran sein! In Tinas Ecole Maternelle sind Schals verboten - "die Kinder könnten sich gegenseitig damit erwürgen!". Wir leben in einem bürgerlichen Vorort, Gewalt unter Vierjährigen hält sich in Grenzen.

Gummistiefel und Gummihosen, die unsere Kinder zwischen Oktober und März nur zum Schlafen ausziehen, sind hier praktisch unbekannt. Auf dem Kinderspielplatz, der niemals "Wurzelzwerge" heißt, sondern an militärische Heldentaten erinnert, sehen die französischen Kinder in Dufflecoat, Röckchen und Lackschuhen aus, als müssten sie gleich zum Empfang beim Bürgermeister. In dieser Montur sitzen sie in den besten Restaurants der Stadt und - essen ihre Teller leer. Kein Geschrei, kein Gezappel. An Supermarktkasse wird nicht gejammert. Wer als Quengelbengel auffällt, hat garantiert einen ausländischen Pass. Meistens einen deutschen.

Stundenlang sitzen französische Kinder still im Zug, sehen aus dem Fenster oder auf ihren Gameboy. Ihre deutschen Altersgenossen klettern am liebsten auch bei Tempo 250 über die Sitzlehnen zu den Nachbarn. Jonas, Tina und Stan sind die Kinderabteile der Deutschen Bahn gewöhnt, die Kinderfahrscheine und die hilflose Resignation der Erwachsenen angesichts tobender Kinder. Hier ernten sie böse Blicke. Aber wir sind froh, dass wir überhaupt mitfahren dürfen. Denn der Einstieg in den TGV ist so eng, die Gänge so knapp bemessen, dass wir erst fürchteten, wir müssten den Kinderwagen auf der Gare du Nord zurücklassen.

Wie kinderfreundlich Frankreich wirklich ist, das zeigt sich auch auf der Straße. Zwar sperrt mit großer Geste der eigens dafür abgestellte Polizist die Straße ab, wenn die Schule aus ist. Aber an Zebrastreifen wird grundsätzlich nicht gebremst. Gerade haben wir unseren Kindern in Deutschland mit viel Mühe beigebracht, dass man an roten Ampeln stehen bleibt, missachtet toute la France das rote Licht ebenso wie das grüne. Das Resultat der großen Lässigkeit: In Frankreich sterben pro Jahr 700 Menschen mehr im Verkehr als in Deutschland, obwohl hier 20 Millionen Menschen weniger leben und es zwischen Rhein und Oder dreimal häufiger kracht. Frankreich hält in der EU einen traurigen Rekord: 2005 starben hier 221 Kinder bei Verkehrsunfällen - absolut die höchste Zahl in der gesamten EU.

Null Toleranz dagegen gilt im Schwimmbad: Wer Boxershorts trägt, fliegt raus. Wer seine Kinder unter der Aufsicht eines Freundes im Nichtschwimmerbecken belässt, um ein paar Bahnen zu ziehen, wird von den griesgrämigen Maitrises des nageurs umgehend zurückgepfiffen: "Die Kinder allein lassen? Mais non, Monsieur!" Und wenn doch, dann müssen die Kinder bei der Badeaufsicht Platz nehmen - und selbst auf dem Trockenen Schwimmflügel anlegen. Da hilft es nichts, wenn sie auf der Badehose stolz ihre Seepferdchen-Schwimmabzeichen präsentieren.

In Deutschland kann man die "neuen Väter" mit der Lupe suchen. In Frankreich braucht man dafür ein Elektronenmikroskop. Den Frauen ermöglichen die vielfältigen Einrichtungen einen Job; die Machos entlasten sie davon, sich um die Kinder zu kümmern. Wie kinderfreundlich unser westlicher Nachbar ist, lässt sich diskutieren. Klar ist aber: Frankreich ist elternfreundlich.

Quantitativ geht die Rechnung auf: Während wir mit drei Kindern in Deutschland schon als kinderreicher Sozialfall gelten, sind wir in Frankreich höchstens Durchschnitt. Viele Kinder in der Ecole Maternelle haben drei, vier oder fünf Geschwister. Family-Vans sind noch verbreiteter als auf deutschen Straßen. In den Supermärkten stapeln sich die Familienpackungen. Eine große Familie ist in vielen Fällen einfach normal. Dagegen haben Kleinfamilien manchmal nichts zu lachen. Eine Mutter von zwei Kindern: "Wir gehören in manchen Kreisen einfach nicht dazu." Eine andere Zweikindmutter entschuldigt sich bei ihren Freunden für ihren Egoismus, auf das Dritte zu verzichten: "Wir reisen halt so gern."

Wer tut, was ihm gesagt wird, kann als Kind in Frankreich prima leben. Immerhin werden die enfants de la patrie gleich am Beginn der Nationalhymne daran erinnert, dass glorreiche Tage anbrechen.

Immerhin man sieht hier nicht - wie oft in deutschen Sandkisten und Zugabteilen - diese kleinen Monster, die ihre hilflosen Eltern herumkommandieren. Und immerhin wissen hier die Erzieherinnen im Kindergarten, dass sie nicht nur einen Bildungsauftrag für die Kinder haben, sondern der ganzen Familie das französische savoir vivre nahe bringen sollen. Wenn der kleine Stan aus der Krippe kommt, duftet er ganz wunderbar - nach Parfum.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

6 Kommentare

 / 
  • E
    E.Lieb.

    Es wäre ja aber, bevor wir jetzt über die schreckliche Behandlung der Kinder in Frankreich lamentieren (was sicher nicht die Absicht von B. Pötter ist), doch mal eine Diskussion wert, was denn eigentlich in Deutschland die Kinder zu den Monstern werden lässt, die Eltern in Resignation und Verzweiflung stürzen?

     

    Was ist daran verkehrt, wenn Kinder das tun, was man ihnen sagt? Mit Kindern in ein Restaurant gehen zu können, ohne den Rausschmiss fürchten zu müssen, wäre doch echt mal eine Alternative! Stillsitzen und vielleicht was malen im Zug, ohne dass das Großraumabteil entnervt flüchtet, das hätte doch mal was...

     

    Also, Herr Pötter: Hier liegt ein weites Forschungsfeld und Stoff für viele Artikel und Kolumnen. Wir wüssten gern, ob da nicht doch Geheimmethoden existieren, die wirken, ohne dass sich die gesamte Jugend Frankreichs später beim Psychoanalytiker wiederfindet.

     

    Den, so habe ich hier manchmal den Eindruck, so manches Eltern-Kind-Gespann nötig hat.

  • BE
    Birte Etiobi

    Mein Sohn ist 3 Jahre alt und hat gerade in England mit Vorschule angefangen - 2.5 Stunden am Tag. Da geht es aehnlich streng zu, (naughty chair, zweier Reihen, schuluniform etc)

     

    Allerdings wuerde es ihm immer erlaubt sein ein Glas Wasser zwischendurch zu trinken. Das das in Frankreich nicht so ist, finde ich schockierend.

     

    Ich habe auch gemerkt das er zuhause viel frecher ist seid er mit der Vorschule angefangen hat...ich denke er muss fuer das 2.5 stunden ueber-liebsein kompensieren.

    Ab September geht er von9 bis 3 uhr zur Grundschule...

     

    Das Frankreich nicht so kinderfreundlich ist, haben wir in Paris bemerkt als wir u-bahn fahren wollten, mit der Kinderkarre kommt man da garnicht durch - zu eng - da muss man sie ueber die hohen barieren heben - selbstverstaendlich alleine, hilfe wird auch nicht vom Personal angeboten.

  • S
    Silv

    Endlich mal wieder ein Lebenszeichen vom Herrn Pötter!! Schon schlimm genug, dass es sein Buch Das Leben ist ein Kinderzimmer, eine Sammlung sämtlicher taz-Kolumnen, nicht mehr zu kaufen gibt.

    Ich kann dem Kommentar von Konrad Feiler bestätigen. Denn soweit ich mich erinnern kann, war meine Kindergartenzeit 1980-84 in Sachsen sehr ähnlich: Mittagsschlaf, Anfassen und in Zweierreihen laufen. Im Hort der 1.-4. Klassen, heute sagt man dazu Grundschule, war es genauso. Allerdings war da der Mittagsschlaf nur noch in der 1. Klasse an der Tagesordnung. Wie sich die Zeiten ändern.

  • VL
    Vikoria Lokovic

    Aus eigener Erfahrung (Freiwilligenarbeit in einem Kindergarten, in Kinderbetreuungseinrichtungen und Freizeitcentren für Schulkinder in Frankreich) kann ich dem Autor nur zustimmen. Auch ich hatte einiges zu schlucken, als gleich am ersten Tag klar wurde, dass manche Kinder wenn sie nicht brav sind auf einen Stuhl sitzen mussten, während die anderen spielten. Viele dieser Erfahrungen haben mir ähnlich die Augen geöffnet wie es in dem Artikel beschrieben ist. Danke dafür!

  • JS
    Jens Schäfers

    Also, mich erinnert das sehr an meine Zeit in einem städtischen Kinderhort einer Ruhrgebietsstadt.

     

    Auch dort war der Mittagsschlaf, koste es, was es wolle, angesagt. Das war so um 1976 rum.

     

    Das ordentliche Zweierreihengehen kenne ich noch aus meiner Grundschulzeit Anfang der 1980er Jahre.

     

    Und Respekt vor Erwachsenen und Lehrern war natürlich inbegriffen. Der wurde aber damals auch noch mehr von den Eltern vermittelt. So verkrampft wie in dem Artikel beschrieben habe ich aber die Zeit nicht in Erinnerung. Da war auch schon der Einfluß von '68 zu spüren.

     

    Das Frankreich in vielerlei Hinsicht in punkto Kindererziehung und gesellschaftlichem Elternbild das andere, auch nicht unbedingt wünschenswerte Extrem darstellt, zeigt der Artikel einmal mehr sehr schön.

  • KF
    Konrad Feiler

    Wenn ich das so lese, erinnert mich das sehr an meine eigene Kindergartenzeit. Bzw. an das was mir meine Mutter später davon erzählt hat.

    Z. B. musste auch ich jeden Mittag 1 Stunde schlafen, ob ich müde war oder nicht, was ich noch nachvollziehen kann. Respekt vor Erwachsenen und das ordentliche Zweireihengehen waren auch bei mir Grundpfeiler des Kindergarten.

     

    Ich bin von 1985-1989 in Sachsen in den Kindergarten gegangen.

    Bin ich der einzige der hier die Parallen zur realsozialistischen Erziehung der DDR sieht?