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■ Frankreich: Front National ist für viele eine normale ParteiDie Folgen verpaßter Trauerarbeit

Verteidiger der Republik – von den Kommunisten über die Sozialisten bis hin zu den Neogaullisten – haben die Bürger der Kleinstadt Vitrolles in den vergangenen Tagen aufgerufen, nicht die Front National zu wählen. Sprecher sämtlicher religiöser Gemeinden haben vor der Gefahr gewarnt. Künstler, Antirassismusorganisationen und Gewerkschaften haben Kampagnen gemacht. Am Sonntag sind sie alle gemeinsam gescheitert: Die rechtsextreme Partei hat bei den Bürgermeisterwahlen in dem traditionell linken Ort über 52 Prozent der Stimmen bekommen.

Überraschend ist nicht, daß die Front National sowohl die Justiz als auch die politischen Institutionen der Demokratie für ihre Zwecke benutzt. Auch nicht, daß sie in Vitrolles eine „Strohfrau“ vorschickte, um dem für unwählbar erklärten Gatten dennoch Zugang zum Rathaus zu ermöglichen. Überraschend ist vielmehr, daß das Tabu „ich wähle keine offen fremdenfeindliche und latent antisemitische Partei“ heute in Frankreich nicht mehr gilt. Die Wähler halten die Front National für eine ganz normale Alternative.

Die Stimme für die Rechtsextremen reflektiert die große Enttäuschung der kleinen Leute über die sozial- und wirtschaftspolitisch erfolglosen und dazu noch korrupten Machenschaften der „Altparteien“. Sie zeigt weiter die Angst vor dem Vergessenwerden durch die Zentralmacht in Paris und durch das noch entferntere und diffusere Brüssel.

Aber vor allem verdeutlicht die Wahlentscheidung, daß Frankreich immer noch nicht eins mit seiner Geschichte ist. Die nie verarbeiteten Brüche dieses Jahrhunderts – von der Kollaboration über den Indochinakrieg bis hin zu dem blutigen Kolonialkrieg in Algerien – haben Wunden hinterlassen, die von der Propaganda der Front National ausgenutzt werden. Ihr Parteichef bestreitet die Rechtmäßigkeit von Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Franzosen. Ihre Propaganda tut so, als sei die algerische Unabhängigkeit eine Ungerechtigkeit gegen Frankreich gewesen. In Krisenzeiten wirken derartige Rückgriffe auf die „Gloire“ wie Balsam. Außer Präsident Jacques Chirac, der 1995 erstmals eine französische Mitschuld bei der Judenverfolgung anerkannt hat, haben die meisten Politiker zu der kollektiven Verdrängung der eigenen Geschichte beigetragen.

In Vitrolles zeigt sich, daß die nie in Frage gestellten Ressentiments, Antisemitismus und Antirepublikanismus, gemischt mit der Enttäuschung der kleinen Leute die idealen Voraussetzungen für ein Erstarken der Front National sind. Dorothea Hahn

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