Fragwürdiger Polizeieinsatz: Erst fesseln, dann fragen

Die Polizei dringt erneut in eine Schutzeinrichtung für junge Geflüchtete ein. Träger und Flüchtlingsrat üben schwere Kritik am Einsatz.

Die Hände eines jungen Erwachsenen sind hinter seinem Rücken in Handschellen gelegt. Der Hintergrund ist neutral.

Freiheit adé: Gefesselt ist es aus mit der Bewegungsautonomie Foto: Getty Images

BERLIN taz | Es ist der Morgen des 11. November 2020. Die Polizei sucht den Jugendlichen Yusuf (Name geändert); sie verdächtigt ihn, mit Drogen zu handeln, und vermutet, dass er sich in einer Jugend-WG in einer Gemeinschaftsunterkunft in Berlin-Reinickendorf aufhält.

Als die Beamten die Wohnung „schlagartig“ betreten, wie es ein Polizeisprecher gegenüber der taz formuliert, finden sie zwei Jugendliche vor, die sie „aus Gründen der Eigensicherung“ zunächst „zu Boden“ bringen und anschließend fesseln. Doch die Jugendlichen haben mit der Angelegenheit nichts zu tun: Keiner von ihnen ist der Gesuchte, und als ihnen ein Foto von ihm gezeigt wird, können sie den jungen Mann nicht identifizieren.

Im Nachhinein entstandene Gesprächsprotokolle des Trägers der Einrichtung, die der taz vorliegen, schildern die Geschehnisse aus der Perspektive der beiden 19-jährigen Jugendlichen. Sie wurden vom Polizeieinsatz vollständig überrascht, einer der beiden schlief zum Zeitpunkt des Zugriffs.

Als die Polizei ihre Zimmer stürmte, sie fesselte und sie auf Deutsch aufforderte, sich auf den Boden zu legen, bekamen sie es mit der Angst zu tun: „Ich hatte nicht verstanden, warum sie da sind“, sagt einer der Jugendlichen laut den Protokollen. Und: „Ich denke immer noch darüber nach, warum sie mich gleich auf den Boden gelegt und gefesselt haben.“

Fehlende Kommunikation

In der Einrichtung wird jungen und unbegleiteten Geflüchteten ein betreutes Wohnen in Wohngemeinschaften ermöglicht. Das Angebot richtet sich explizit an Jugendliche, die sich in psychischen Belastungssituationen befinden und die bereit sind, ein vom Träger definiertes Regelwerk zu akzeptieren, etwa den Schulbesuch oder die Abstinenz von Drogen.

Der Träger selbst möchte nicht namentlich in der Zeitung genannt werden. Gegenüber der taz übte eine Mitarbeiterin jedoch deutliche Kritik am Vorgehen der Polizei: „Es handelt sich bei der Einrichtung um einen Jugendschutzraum, in den die Polizei nicht ohne Einwilligung eintreten darf. Eine andere Vorgehensweise wäre möglich gewesen – die Verhältnismäßigkeit fehlte hier völlig“, sagte sie.

Die Polizei hält dem entgegen, sie habe mehrfach versucht, die beiden zuständigen Be­treue­r:in­nen zu erreichen. Diese bestätigen zwar, einen Anruf erhalten zu haben – doch als man „keine drei Minuten später“ versuchte, die Polizei zurückzurufen, sei keiner mehr erreichbar gewesen. Da sei der Zugriff bereits geschehen.

Kontaktperson, die keine sein will

Die Darstellungen von Polizei und Träger widersprechen sich deutlich. Zum Beispiel ist unklar, wie die Beamten überhaupt zu der Vermutung kamen, dass sich Yusuf in der durchsuchten Wohnung aufhalte. Ein Sprecher der Polizei schrieb der taz, der Gesuchte sei in der Vergangenheit in dieser Wohnung festgestellt worden. „Für einen objektiven Beobachter“ habe er sich „wie ein Nutzer dieser Wohnung“ verhalten.

Dagegen heißt es aus Kreisen des Trägers, der Gesuchte sei in der Einrichtung nie gemeldet gewesen – und auch aus den Besuchsprotokollen gehe nicht hervor, dass sich Yusuf jemals im Gebäude aufgehalten habe. Dies wird durch die Aussagen mehrerer Be­woh­ne­r:in­nen (unter ihnen die Jugendlichen der durchsuchten Wohnung) unterstützt, die den Gesuchten noch nie gesehen haben wollen.

Im Anschluss an den Einsatz habe sich die Polizei auf einen anderen Bewohner des Gebäudes bezogen, der als Kontaktperson Yusufs fungiert haben soll, heißt es aus Trägerkreisen. Dieser Jugendliche ist Jackson, der ebenfalls anders heißt, doch auch er möchte anonym bleiben. Auch Jackson will Yusuf noch nie gesehen haben – zudem befinde sich seine Wohnung in einem ganz anderen Stockwerk als die durchsuchte, wie der Träger anmerkt.

„Ich hatte noch nie Ärger mit der Polizei“, beteuert Jackson gegenüber der taz. Seinen Namen nun einfach mit Kriminalität in Verbindung zu bringen, sei respektlos. „Ich verstehe nicht, warum mir die Polizei jetzt Probleme macht“, sagt er und fordert, dass sein Name aus den Akten gelöscht wird.

Seitens des Trägers wird vermutet, dass die Polizisten Jacksons Name einfach vom Klingelschild abgeschrieben haben könnten. Insgesamt zeigte man sich frustriert über die Kommu­nikation mit der Polizei. So habe sie sich im Nachhinein nach Namen anderer „Schwarzafrikaner“ erkundigt – als würde die Einrichtung Daten auf Basis von Hautfarben herausgeben.

Fehlender Durchsuchungsbeschluss?

Dazu kommt, dass niemand einen Durchsuchungsbeschluss gesehen haben will – weder der Träger noch die betroffenen Jugendlichen. Nach den Gesprächsprotokollen, die auch Auseinandersetzungen einiger Be­treue­r:in­nen mit Spre­che­r:in­nen der Polizei beinhalten, soll eine Polizistin gesagt haben, es habe einen solchen auch gar nicht gebraucht, denn schließlich sei ja nichts durchsucht worden.

Dies steht den Aussagen der Jugendlichen gegenüber, nach denen Türen und Schränke in der Wohnung geöffnet wurden. Auf erneute Nachfrage schreibt ein Sprecher der Polizei der taz, es habe ein gültiger, vom Amtsgericht Tiergarten ausgestellter Durchsuchungsbeschluss vorgelegen. Dieser sei auch einem der anwesenden Jugendlichen vorgezeigt worden.

Der Beschluss sei jedoch nicht in der Wohnung hinterlassen worden, da es sich bei den angetroffenen Personen nicht um dessen Adressaten gehandelt habe – und es seien ja „keine Durchsuchungsmaßnahmen“ vorgenommen worden. Man bitte um Verständnis, die Polizei könne derartige Dokumente nicht herausgeben.

Kritik von Flüchtlingsrat und „Reach Out“

Auch Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat übt schwere Kritik an der Polizei. Viele geflüchtete Jugendliche hätten mit Gewalttraumata zu kämpfen: „Wenn sich Staat und Polizei derartig gewalttätig verhalten, verlieren die Jugendlichen alles aufgebaute Vertrauen in die Institutionen. Dies konterkariert die Bemühungen der Sozialarbeiter:innen, die Jugendlichen psychisch zu stabilisieren“, sagte sie der taz.

Dagegen schrieb die Polizei, sie wähle „generell“ das „mildeste Einsatzmittel“ nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Doch es ist nicht das erste Mal, dass die Polizei unter fraglichen Umständen in eine Jugendschutzeinrichtung eindringt. Bereits 2019 kam es zu zwei vergleichbaren Vorfällen – einer davon ereignete sich im Juli im benachbarten Gebäude derselben Jugendschutzeinrichtung.

In der entsprechenden Mitteilung schrieb der Flüchtlingsrat, bewaffnete Beamte hätten Jugendliche aus ihren Betten gezogen sowie in Handschellen gelegt – obwohl gegen keinen von ihnen ein Straftatverdacht bestanden habe. Die von der Polizei gesuchte Person sei bereits zwei Monate zuvor in eine andere Einrichtung verlegt worden.

Biplab Basu vom der Initiative gegen Polizeigewalt „Reach Out“ sieht in diesen Vorfällen ein systemisches Problem. Die Polizei patrouilliere auch verstärkt vor Gemeinschaftsunterkünften und schikaniere Jugendliche mit willkürlichen Befragungen, kritisiert er. Er fordert deshalb die Politik auf, klare Richtlinien für die Polizei zu schaffen, welche die Schutzräume von geflüchteten Jugendlichen sichern.

Doch Basu sieht wenig Problembewusstsein aufseiten der Politik: „Niemand scheint es als notwendig zu erachten, etwas zu tun. Ich kann das nur so deuten, dass diejenigen Menschen, die von solchen Situationen betroffen sind, keine Entscheidungsmacht besitzen“, sagte er der taz.

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