Fragen der Integrität: Mit dem SUV zur Klimakonferenz
Wie umgehen mit Leuten, die im Privaten nicht ihren Überzeugungen entsprechend leben? Der Ethikrat erinnert an den Wert des eigentlichen Ziels.
K ürzlich ging ich abends noch einmal spazieren, als mir der Vorsitzende des Ethikrats mit einem Handkarren entgegenkam. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Auf dem Handkarren lagen müder Löwenzahn und Klee. „Guten Abend“, sagte ich. „Haben Sie jetzt Kaninchen?“
„Nein, haben wir nicht, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende nachsichtig. „Wir befassen uns mit der Mensch-Pflanze-Beziehung“, fügte er an und wies auf ein Schild über dem Laden, vor dem wir standen: „Zum fröhlichen Schierling“, stand darauf, und: „philosophische Begegnungen mit der Pflanze“.
„Sind Sie ein Blumenladen?“, fragte ich. „Selbstverständlich nicht“, sagte der Vorsitzende. „Wir ermöglichen Begegnung von Mensch und Pflanze in einem voraussetzungsfreien Raum. Es muss ein Anliegen der gegenwärtigen Philosophie sein, die Perspektive des Menschen auf die Schöpfung neu zu justieren.“ – „Oh ja“, sagte ich und sah durch die Schaufensterscheibe auf fünf große Vasen mit großblättrigen Zweigen darin. „Die Feige des Empedokles, 18 Euro pro Stück“, stand auf einem Aufsteller daneben.
Voraussetzungsfreie Begegnung – mit Pflanzen
„Gibt es eine kommerzielle Seite bei dieser Begegnung?“, fragte ich, und dann, übergangslos, weil mir der letzte Streit mit meinem Freund einfiel: „Kann ich Ihnen noch eine Frage vorlegen?“ – „Natürlich“, sagte der Ratsvorsitzende und hob einige Büschel aus dem Karren. „Ob Sie mir beim Entladen helfen könnten?“ – „Sicher“, sagte ich und nahm ein Bündel. „Kürzlich kam mein Freund von einer Klimakonferenz zurück, zu dem weite Teile entweder per Flugzeug oder SUV angereist waren. Ich finde das in hohem Maß unüberzeugend. In der Praxis gebe ich wenig auf die Ideen von Leuten, die nicht bereit sind, im Privaten ihren Überzeugungen entsprechend zu leben.“
Ich gab dem Ratsvorsitzenden ein weißes Pflanzenbündel, das übel roch. „Das ist Schierling“, sagte er wohlwollend, „der Laie erkennt ihn daran, dass er riecht wie Mäuse-Urin.“ – „Tatsächlich“, sagte ich. „Und wie sehen Sie nun die Frage der Konsequenz oder Integrität, wie immer man es nennen mag? Finden Sie nicht, dass man nur glaubwürdig Positionen vertreten kann, die man durch sein eigenes Verhalten beglaubigt? Mein Freund sagt, dass das lediglich die Strahlkraft der Position erhöht, als sei es nicht mehr als ein Parameter in der Waschmittelwerbung.“
„Ihr Freund vertritt den utilitaristischen Zugang der angelsächsischen Schule“, sagte der Ratsvorsitzende. „Es geht ihm vor allem darum, dass das eigentliche Ziel erreicht wird.“ – „Aha!“, rief ich aufgebracht, weil es mich an allzu viele häusliche Debatten erinnerte. „Wollen Sie damit sagen, dass es voll in Ordnung ist, wenn man Kurzstrecke fliegt und gleichzeitig beklagt, dass es immer noch nicht verboten ist?“
Den Lüsten widerstehen
Ich zog ein Buch aus meiner Tasche, das ich für Begegnungen mit dem Ethikrat immer bei mir trug. „Hier“, sagte ich und versuchte, beiläufig zu klingen. „Musonius sagt: Wie könnte denn jemand eine ernste sittliche Persönlichkeit werden, wenn er nur wüsste, dass man sich von den Lüsten nicht hinreißen lassen darf und dabei doch völlig ungeübt wäre, ihnen zu widerstehen?“
„Danke, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende, „Musonius ist uns geläufig. Wir befassen uns gerade mit seinen Ideen von irrationalen Regungen.“ – „Die da wären?“, fragte ich, aber ich hätte es mir denken können: „Zorn, Missgunst …“, begann der Ratsvorsitzende. „Ich muss jetzt gehen“, sagte ich und drehte mich zur Tür. Dabei stieß ich eine Vase voller Empedokles̕scher Feigen um. Noch bin ich keine ernste sittliche Persönlichkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus