Fotografie in New York: Die Stadt, die Menschen, der Zerfall
Der U-Bahn-Fahrer und „Menschenjäger“ mit der Kamera: Der US-amerikanische Fotograf Bruce Davidson zeigt seine Serie „Subway“ in Berlin.
Als Bruce Davidson 1980 begann, in der New Yorker U-Bahn zu fotografieren, befand sich die Stadt im Ausnahmezustand: die Mordrate in New York City lag bei weit über 1.500 Menschen pro Jahr. Weite Teile der Stadt versanken in Müll, Ruinen, Gewalt, Armut und Kriminalität. Auch die U-Bahn war ein gefährlicher Ort, Überfälle, Vergewaltigung, Verwahrlosung, Tunnelfeuer oder technische Defekte waren an der Tagesordnung.
Das 1904 eröffnete und in den 1940er Jahren ausgebaute Schienennetz wurde seit den 1960er Jahren konsequent von der Stadtverwaltung vernachlässigt und befand sich damals in einem desaströsen Zustand. Dennoch fuhren täglich mehr als 2 Millionen New Yorker auf dem über 370 km langen Streckennetz und frequentieren die 468 Bahnhöfe.
Bruce Davidson, geboren 1933 in Oak Park, Illinois, ist einer von ihnen. Er fährt Tag und Nacht mit der U-Bahn und porträtiert die Reisenden. Sein Vorgehen ist direkt und unerschrocken. Ausgerüstet mit einer Kleinbildkamera und einem leistungsstarken Blitz fotografiert er meist aus kurzer Distanz. Er spricht die Personen vorher an und bittet um Erlaubnis für seine Arbeit. Gelegentlich drückt er auch zuerst auf den Auslöser und erklärt dann sein Vorhaben.
Blitz durch die unsichtbare Mauer
Da ein Blitzlicht sich nicht verstecken lässt, ist er ständig exponiert und immer in Interaktion mit den Porträtierten. Davidson berichtet, wie er sich immer wieder als potenzielles Opfer eines Überfalls präsentierte und massiv mit den Abwehrreaktionen der Fahrgäste zu kämpfen hatte. Denn in der U-Bahn vermeidet man direkte Blicke und baut eine unsichtbare Mauer auf. Diese Anonymität begünstigt auch die Ignoranz gegenüber gewalttätigen Übergriffen.
Bruce Davidson schuf für sich das Bild des „Menschenjägers“ mit der Kamera, um die Angst vor Angriffen zu überwinden. Er zeigt in seiner Arbeit „Subway“ das weite soziale Spektrum der Metropole und das soziale Gefälle auf engstem Raum: Wall Street Broker, schwarze und weiße Jugendgangs, Liebespaare, Rabbis, elegante Geschäftsfrauen, coole Discoqueens, Familien, Kids, Obdachlose und Cops. Meist sind die Waggons überfüllt, stickig und eng.
Mit Magic-Markern und Spraydosen hinterließen Hundertschaften von New Yorker Kids illegal ihre Spuren auf und in den Waggons. Ihre Tags bestehen aus einem Spitznamen und der jeweiligen Straßennummer: Taki 183, Turok-170 oder Shadow 137. Die Graffitis sind bunt und barock gesprayte Slogans oder Comicbilder. Sie künden von einer subversiven und kreativen Aneignung des öffentlichen Raums. Die Stadt zerfällt, die South Bronx ist ein Ghetto, eine Ruinenstadt und ein permanenter Kriegsschauplatz.
Aufstand der Zeichen
„Was ihr Ghetto nennt, nenne ich Zuhause“, zitiert Bruce Davidson einen jungen Schwarzen. Und diese jungen Leute schlagen zurück und überziehen die Infrastruktur mit ihrem eigenen Zeichensystem. Die Tags und Graffitis markieren die symbolische Zerstörung der Gesellschaft, wie es Jean Baudrillard bereits 1978 in seinem Buch „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ treffend analysierte.
In der U-Bahn kommen alle zusammen. Schwitzend und mit freiem Oberkörper, im coolen Homeboy-Look, jüdisch orthodox, bieder oder sexuell provozierend sind der Selbstdarstellung keine Grenzen gesetzt. Aber auch die Poesie des Alltags findet sich in den Bildern von Davidson: ein Blick auf das Riesenrad von Coney Island, die Freiheitsstatue im Zwielicht, ein Mädchen, das auf der Plattform zwischen den Waggons balanciert.
Und immer wieder der harte U-Bahn-Alltag: drängeln, stoßen, argwöhnen oder attackieren. „Too much, too many People!“, rappten damals Grand Master Flash und The Furious Five in ihrem Song „New York, New York“. Und beschrieben eine Gesellschaft kurz vor dem Kollaps.
Der dokumentarische Stil
Bruce Davidsons Arbeit „Subway“ spiegelt sich in einem gewichtigen Vorläufer. Bereits 1938–1941 fotografierte der amerikanische Fotograf Walker Evans die New Yorker Subway. Mit einer versteckten Kamera, die er unten seinem Mantel verbarg und die er mit einem langen Drahtauslöser im Ärmel auslöste, fotografierte er die ihm gegenübersitzenden Fahrgäste.
Evans wollte Bilder machen, die ohne jede Interaktion zwischen Fotograf und Model entstehen, die gleichsam automatisch von der Kamera aufgenommen werden. Bilder, die den Wahrheitsgehalt der Fotografie reflektieren und dem von Evans geprägten Begriff des „dokumentarischen Stils“ entsprachen.
Davidson geht anders vor, exponiert sich, spricht mit den Menschen, interpretiert und übersetzt die fatale und anziehende Dynamik der U-Bahn in intensive Bilder. Zu Beginn des Projekts hatte er schon wichtige Bücher wie „Brooklyn Gang“ (1959) und „East 100th Street“ (1968) veröffentlicht und lange Zeit für große Magazine gearbeitet. Mit „Subway“ liegt ein Stück lebendige Geschichte vor: die Stadt, ihr Zerfall, die Menschen und ihr selbst geschaffener Lebensraum, der anziehend und abstoßend zugleich ist.
Bruce Davidson: Subway. C/O Berlin. Bis 20. Mai
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!