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Forscherin über Kinderarmut„Sie sind von Armut erschöpft“

Ein Viertel aller Berliner Kinder gilt als arm. Armutsforscherin Susanne Gerull erklärt, warum das so ist.

Armut sieht man den Kindern nicht an: Sie zeigt sich verschämt und wird überspielt Foto: dpa
Manuela Heim
Interview von Manuela Heim

taz: Frau Gerull, wann gilt ein Kind als arm?

Susanne Gerull: Wenn in der Politik von Kinderarmut die Rede ist, geht es in der Regel nur um relative Einkommensarmut nach der 60-Prozent-Regel der EU: Wer weniger als 60 Prozent als der Durchschnitt hat, gilt als armutsgefährdet. Parallel dazu gibt es die Zahlen, wie viele Kinder in Familien leben, die Grundsicherung bekommen. Einkommen ist natürlich ein ganz wichtiges Schlüsselmerkmal von Armut, aber es greift insgesamt zu kurz.

Was verstehen Sie als Wissenschaftlerin denn unter Kinderarmut?

Die wenigen Forschungsprojekte, die sich genauer damit beschäftigt haben, gehen zum Beispiel mit dem Lebenslagen-Konzept weit darüber hinaus. Da werden Lebensbereiche wie Arbeit, Wohnen, Bildung, Ernährung, Gesundheit, Partizipation angeschaut, in denen ein Mensch oder in diesem Fall ein Kind unterprivilegiert sein kann.

Im Interview: Susanne Gerull

Jahrgang 1962, hat in den 1990er Jahren als Sozialarbeiterin in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet und forscht seit vielen Jahren zum Thema Armut. Seit 2008 ist sie Professorin für soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Hellersdorf. Gerull ist außerdem Sprecherin der Fachgruppe „Armutsbegriff“ in der Landesarmutskonferenz.

Hat Armut auch etwas mit Wahrnehmung zu tun?

Definitiv, das schlägt sich auch in Studien nieder: Es gibt Kinder, die objektiv als arm gelten, denen es aber sehr gut geht und die sich auch nicht als arm empfinden. Das hängt aber stark von den Ressourcen der Eltern ab, da sind wir wieder bei Gesundheit, Bildung und so weiter. Und dann gibt es andere, die in ganz desolaten Kontexten leben und dann noch in der Schule gehänselt und gemobbt werden und deren Erzieher:innen und Lehrer:innen auch nicht ausreichend fortgebildet sind, um damit gut umzugehen.

Can, 13 Jahre

Ich bin in der siebten Klasse. Ich komme seit 10 oder 20 Jahren in die Arche. Heute bin ich nur bis 15 Uhr hier, ich habe noch einen Termin. Hier gibt es einen Kicker und eine Playstation, und Sammy hat mir das Fahrrad repariert. Wenn ich groß bin, werde ich Busfahrer oder geh zur Polizei. Ich komme jetzt nur noch in den Ferien her, weil ich so weit weg wohne. Außer heute, da hat Sammy mein Fahrrad repariert. Zu Hause sind wir 7, ich bin auch schon Onkel, wir haben drei Zimmer, ich schlafe mit meinem Bruder in einem Zimmer. Zu Hause habe ich eine Playstation, da spiele ich Fortnite und Fifa. Ich weiß nicht, ob es hier auch arme Kinder gibt. Wir sind nicht arm.

Mit Can haben wir in der Arche Reinickendorf gesprochen

Im Zuge der Recherche habe ich mit Kindern gesprochen, die nach den gängigen Kriterien als arm gelten dürften. Sie hatten auch alle eine mehr oder weniger genaue Vorstellung, was arm ist. Aber die wenigsten haben sich selbst als arm beschrieben.

Das kann eine Bewältigungsstrategie sein: Ich will nicht als arm gelten, also bezeichne ich mich auch nicht als arm. Wir kennen das aus dem Bereich der verdeckten oder versteckten Armut bei Rentner*innen, die zum Beispiel keine Grundsicherung beantragen, obwohl sie ihnen zustünde – weil sie dann tatsächlich als arm gelten würden. Sich arm zu fühlen kann als Stigma empfunden werden.

Hat eine Stadt wie Berlin auch Vorteile für arme Kinder?

Berlin bietet massenhaft Möglichkeiten, Freizeitangebote für sehr wenig Geld oder mit dem Berlinpass kostenlos zu nutzen. Aber auch da ist die Frage, ob die Eltern es schaffen, ihren Kindern den Zugang dazu überhaupt zu ermöglichen. Wir haben hier das Problem der erschöpften Familien – den Begriff hat der Magdeburger Professor Ronald Lutz geprägt. Diese Familien haben theoretisch die Zeit, um sie mit ihren Kindern zu verbringen. Aber sie sind von ihrer Armut so erschöpft, dass sie es nicht auf die Reihe kriegen.

Was bedeutet das konkret für die Kinder?

Da gehen Kinder dann ungefrühstückt in die Schule und bekommen in Einrichtungen wie der Arche mittags die erste Mahlzeit, weil die Eltern es nicht schaffen aufzustehen. Das meine ich ganz ohne Schuldzuweisung, deshalb finde ich den Begriff „erschöpft“ in diesem Zusammenhang auch so passend.

Macht Armut schon Kinder krank?

Ganz klares Ja. Schon bei den Einschulungsuntersuchungen werden Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, motorische Schwierigkeiten festgestellt, die überproportional in armen Familien auftreten. Auch das RKI legt regelmäßig Auswertungen zur Kindergesundheit vor – mit dramatischen Ausschlägen sowohl bei somatischen Erkrankungen als auch bei physischen Einschränkungen, die die Kinder dann auch ganz schwer wieder aufholen können.

Die Idee einer sozialen Gesellschaft ist es ja, diese Herkunftsnachteile von Kindern aufzufangen. Gelingt das in Berlin?

Darüber würde ich sogar noch hinausgehen: Der Staat hat nicht nur die Verpflichtung, Nachteile auszugleichen, sondern auch präventiv gegen Armut vorzugehen. Die EU hat Deutschland aber schon vor vielen Jahren ganz offiziell dafür gerügt, dass die nachgewiesene Sozialvererbung – aus armen Kindern werden arme Erwachsene und arme Eltern – nicht verhindert wird. Zum Beispiel durch einen Abbau der sehr selektiven Bildungsprozesse, wo schon nach der Grundschule ausgesondert wird. In ganz vielen Studien wurde immer wieder nachgewiesen, dass Kinder mit gleichen Leistungen, die aber von Armut betroffen sind, eben nicht die gleichen Empfehlungen für weiterführende Schulen bekommen und dass sie nicht gleich gefördert werden. Das ist in anderen Staaten anders. Deutschland kommt hier seiner Verpflichtung der Armutsprävention einfach nicht nach.

Und wie steht Berlin da?

Was wir wissen, ist, dass die relative Einkommensarmut von Familien und der Bezug von Sozialleistungen sich seit vielen Jahren auf gleichbleibend hohem Niveau bewegt. Ein Drittel aller Familien in Berlin sind Bedarfsgemeinschaften in der Grundsicherung. Es gibt keinen Anstieg, aber wir kriegen es auch einfach nicht weiter runter. Und noch stärker sind junge Erwachsene von Armut betroffen.

Die dann wieder Eltern werden.

Ganz genau.

Warum macht die Politik nicht mehr dagegen?

Anfang der 2010er Jahre gab es ein Bewusstsein für Kinderarmut und eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen wie steuerliche Vergünstigungen, Kindergeldzuschlag. Da gab es vor allem bei den Kindern unter 14 einen tatsächlichen Rückgang, das hat wirklich gefruchtet. Aber seitdem ist das Thema aus dem Bewusstsein verschwunden und die Zahlen stagnieren.

Sie fordern seit Langem eine integrierte Armutsberichterstattung, in der auch Lebenslagen jenseits von Einkommen mitberücksichtigt werden …

Damit ließen sich auch regionale Armutslagen viel besser abbilden und gezieltere Maßnahmen ergreifen. Eigentlich ist die Vorbereitung der integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung im Koalitionsvertrag festgeschrieben, es sind Gelder dafür eingeplant. Aber das liegt total auf Eis, da wird in dieser Regierungszeit nichts mehr kommen.

Ist das ein Vorwurf an die Sozialsenatorin?

Das Thema Armut kann nur ganzheitlich betrachtet werden, es berührt Soziales, Arbeit, Gesundheit und Wohnen, also fast alle Ressorts. Der Vorschlag der Landesarmutskonferenz war, dass das Projekt Armuts- und Sozialberichterstattung direkt bei der Senatskanzlei, unter dem Regierenden Bürgermeister mit einer Stabstelle angesiedelt wird. Sonst verweisen wieder immer alle nur auf die Sozial­verwaltung.

Müsste in einer rot-rot-grünen Landesregierung die Armutsbekämpfung nicht ganz obenauf liegen?

Wir besuchen als Landesarmutskonferenz immer zu Beginn einer Regierungszeit die Fraktionen. Und bis zuletzt haben wir von der SPD gehört, dass Armut kein Thema ist, mit dem sie nicht so gern an die Öffentlichkeit gehen wollen, weil sie das Image des armen Berlins nicht weiter befeuern wollen. Immerhin gibt es seit 2017 eine Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut … Darin ist die Landesarmutskonfernz auch vertreten und dort wird zum Beispiel die Stärkung und der Ausbau bestehender Angebote in den Bezirken diskutiert. Aber ihre Ergebnisse wird die Kommission vermutlich auch erst zum Ende der Legislatur, das heißt im Herbst 2021, vorlegen.

Ein Viertel aller Berliner Kinder gilt als arm, in manchen Bezirken ist es sogar fast die Hälfte. Haben wir uns an diese irren Zahlen einfach gewöhnt?

Es ist so, dass Politik Druck braucht – aus der Gesellschaft, aus den Medien. In dem Augenblick, wo das kein großes Thema mehr ist, passiert auch wenig. Vor 10 Jahren war Kinderarmut das Skandalthema. Jetzt lese ich kaum noch Berichte dazu in den Medien.

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