Forscherin über Ausbildungsplätze: "Viele Jugendliche drehen Schleifen"
Mehr Schüler finden heute Ausbildungsplätze - aber nur zum Schein. Die Forscherin Heike Solga über abgehängte Hauptschüler und geschönte Statistiken.
taz: Frau Solga, die Zahl der aktuellen Schulabgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden, wird jedes Jahr kleiner. Sie sagen trotzdem, das duale Ausbildungssystem stecke in der Krise. Warum?
Heike Solga: In etlichen Ausbildungen ist die Anforderung an Jugendliche immer höher geschraubt worden. Für Hauptschüler oder auch Realschüler ohne tolles Zeugnis wird es trotz sinkender Schülerzahlen also weiterhin schwer bleiben, eine Ausbildungsstelle zu finden. In Ostdeutschland sehen wir zudem bereits die Effekte des demografischen Wandels: In etlichen Regionen gibt es Azubiplätze, aber keine Azubis - oder umgekehrt. Dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren vergrößern. Die Jugendlichen werden also künftig mit deutlich höheren Mobilitätsanforderungen konfrontiert werden.
Die Jugendlichen müssen also flexibler werden. Inwiefern sollten aber auch die Betriebe umdenken?
Die 47-jährige Professorin für Soziologie (Freie Universität Berlin) ist seit Mai 2008 auch Direktorin der Abteilung "Ausbildung und Arbeitsmarkt" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Habilitiert hat sich die frühere Max-Planck-Forscherin mit der Arbeit "Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus soziologischer und ökonomischer Perspektive".
Sie müssten unter anderem über höhere Ausbildungsvergütungen nachdenken, wenn sie Azubis aus weiter entfernten Regionen anlocken wollen. Denn viele der Jugendlichen, die eine Ausbildung machen, kommen nicht aus reichen Familien, die sich ohne weiteres eine zweite Wohnung leisten können.
Die Wirtschaft sieht das Problem am Ausbildungsmarkt aber vor allem bei den jungen Menschen. Regelmäßig klagen die Arbeitgeber, dass immer mehr Jugendliche gar nicht ausbildungsreif seien.
In den 1960er und 1970er Jahren sind die Jugendlichen nach dem Hauptschulabschluss in der 8. Klasse, also oft mit 14 Jahren, auf einen Ausbildungsplatz gekommen. Heute liegt das Durchschnittsalter bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen bei 19,8 Jahren. Die Betriebe haben sich seit langer Zeit darauf eingestellt, dass sie es mit jungen Erwachsenen zu tun haben, die auch ein höheres schulisches Vorbildungsniveau mitbringen. Davon können sie in Zukunft nicht mehr ausgehen. Sie werden sich umorientieren und verstärkt auch wieder Hauptschüler einstellen müssen.
Welche neuen Anforderungen kommen da auf die Ausbilder zu?
Die Auszubildendengruppe wird heterogener. An den Berufsschulen brauchen wir kleinere Lerngruppen und mehr Personal, die Ausbilder müssen sich darauf einstellen, dass sie den Schülern mehr beibringen müssen. Und die Segregation an den Berufsschulen muss aufgebrochen werden: Denn auch dort werden Schüler ohne Schulabschluss von denen mit Schulabschluss getrennt. Das ist nicht mehr zeitgemäß.
Wirtschaft und Politik verkünden jedes Jahr, dass der Ausbildungspakt ein voller Erfolg sei. Aktuell soll es nur noch rund 18.000 unversorgte Bewerber geben. Stimmt diese Lesart?
Die Statistik ist ein Riesenproblem. Ausbildungsreife Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz ergattert haben und in berufsvorbereitenden Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems stecken, werden nicht als unversorgte Bewerber mitgezählt. Würde man das tun, wird klar, dass mindestens rund 200.000 Ausbildungsplätze fehlen.
Die Unternehmen müssen also deutlich mehr Ausbildungsstellen anbieten?
Ja, nur ein Viertel aller Betriebe bietet überhaupt Ausbildungsplätze an. Natürlich kann nicht jeder kleine Betrieb ausbilden. Aber man sollte sich fragen, ob nicht die großen Betriebe wieder über Bedarf ausbilden müssten. Und es braucht mehr Ausbildungsverbünde, wo Jugendliche in verschiedenen Betrieben lernen, wenn der einzelne Betrieb zu klein ist. In Ostdeutschland gibt es diese Verbund- oder überbetriebliche Ausbildung häufig schon.
Brauchen wir eine verpflichtende Ausbildungsplatzabgabe für Betriebe, die von der Größe her ausbilden könnten, es aber nicht tun?
Bei so einer Abgabe besteht die Gefahr, dass sich die Unternehmen freikaufen, das sehen wir beispielsweise bei der Verpflichtung, Behinderte einzustellen oder eine Abgabe zu zahlen. Außerdem muss das Geld dann auch in die Ausbildung fließen. Dänemark hat beispielsweise eine Art Ausbildungsplatzabgabe und gibt das Geld an kommunale Verbünde, die außerbetriebliche Ausbildungen ermöglichen.
Was aber macht man mit den Jugendlichen, die erst einmal keinen Ausbildungsplatz finden? Bietet diesen Jugendlichen das Übergangssystem genügend Perspektiven?
Das Übergangssystem beinhaltet ja ganz unterschiedliche Maßnahmen. Rund ein Drittel der Jugendlichen, die darin stecken, können das Abitur nachholen, das ist sehr sinnvoll. Viele Jugendliche empfinden aber, dass sie nur Schleifen drehen.
Können sie sich die Zeit in der Warteschleife denn später anrechnen lassen?
Theoretisch gibt es in einigen Bundesländern die Möglichkeit, dass eine Maßnahme im Übergangssystem, also beispielsweise das Berufsgrundbildungsjahr, auf eine spätere Ausbildung angerechnet werden kann. In der Realität geschieht das kaum. Etliche Jugendliche absolvieren also ihr erstes Ausbildungsjahr zwei- oder dreimal. Das ist sehr frustrierend, sie vergeuden ihre Lebenszeit. Und dann gibt es im Übergangssystem die Schüler ohne Hauptschulabschluss. Denen suggeriert man, wenn ihr den Abschluss nachholt, wird es besser. Wird es in der Regel aber nicht.
Wie also sollte man das Übergangssystem reformieren?
Man muss es viel besser mit der Berufsausbildung verzahnen. Die Jugendlichen brauchen eine Perspektive, wenn man sie schon in berufsvorbereitende Maßnahmen steckt.
Und wenn sie trotzdem keinen Ausbildungsplatz bekommen?
Auch da könnte man sich am dänischen Modell orientieren. Dort bleiben Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, auf der Berufsschule, machen aber auch betriebliche Praktika. Sie bewerben sich dann jedes Jahr erneut auf einen Ausbildungsplatz. Wenn sie einen bekommen, steigen sie sofort in das zweite oder dritte Ausbildungsjahr ein. Klappt es gar nicht, schließen auch diese Jugendlichen ihre Ausbildung ganz normal ab, eben auf der Berufsschule.
Mit dem Modell werden sie sich unter Gewerkschaften und Arbeitgebern aber keine Freude machen. Die achten mit Argusaugen darauf, dass die betriebliche Ausbildung der Standardweg bleibt.
Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen folgt dem Marktprinzip. Und wenn Betriebe Jugendliche nicht auswählen, dann muss ich mir als Staat und Gesellschaft überlegen, was passiert mit denen, die nicht ausgewählt wurden, wie kann ich denen trotzdem zu einer Ausbildung verhelfen.
Das kostet aber.
Ja, sicherlich würden sich die Länder gegen solch eine Idee erst einmal sträuben, denn sie müssten für die schulische Ausbildung bezahlen. Aber sie finanzieren andererseits auch schon das Übergangssystem mit, das jedes Jahr rund 4 Milliarden Euro kostet. Man könnte da viele Gelder sinnvoll umschichten. Und hier wäre dann auch das Geld aus einer Ausbildungsplatzabgabe sinnvoll investiert.
Rund 15 Prozent der Jugendlichen, 1,5 Millionen Personen, haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Bundesregierung will diese Zahl perspektivisch halbieren - hat sie dafür die Weichen richtig gestellt?
Die 1,5 Millionen haben sich aufgestaut, als es einerseits zu wenig Lehrstellen gab, andererseits die geburtenstarken Jahrgänge auf den Ausbildungsmarkt drängten. Die Zahl wird sicher zum Teil durch die demografische Entwicklung, das heißt den Rückgang der Schülerzahlen, automatisch sinken.
Das Problem erledigt sich also von selber?
Nein. Denn der Anteil der Hauptschüler, die keine Chance haben, eine Ausbildung zu absolvieren, wird nicht automatisch sinken. Schon weil wir es in den Schulen mit einer steigenden Migrationspopulation zu tun haben. Die Schulen sind darauf aber, Stichwort Sprachförderung, nicht eingestellt.
Und sie werden zudem wohl Personal abbauen, wenn die Schülerzahlen sinken.
Die Gefahr besteht. Wir müssen aber gerade in die Schwächsten an der Schule investieren, in Jugendliche, die sehr früh das Gefühl bekommen, gescheitert zu sein. Wir brauchen sie als Arbeitskräfte statt als Hartz-IV-Bezieher und müssen einer zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft vorbeugen. Die große Frage ist ja auch: Wie lange werden sich die Jugendlichen ihre perspektivlose Situation einfach so anschauen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind