Forscher über Libanon: „Die Hisbollah ist zweitgrößter Arbeitgeber“
Im Libanon galt die Hisbollah lang als größter politischer Akteur. Doch die Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, beobachtet der Aktivist Joseph Daher.
taz: Herr Daher, die Hisbollah ist politische Partei, bewaffnete Miliz und Organisation. Wie viele Mitglieder hat sie insgesamt?
Joseph Daher: Wir müssen vorsichtig sein mit solchen Schätzungen. Die Zahl der Mitglieder liegt höher als die der Angestellten. Aber: Wenn wir uns den zivilen Zweig der Hisbollah ansehen, mit ihren verschiedenen Medieneinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Waisenhäusern und Pfadfinder*innen, sind das so um die 50.000. Genauso viele Soldaten, sowohl Berufssoldaten als auch Reservisten. Also potenziell insgesamt 100.000. Das sind Angestellte. Das heißt: Es ist höchstwahrscheinlich der zweitgrößte Arbeitgeber im Libanon, nach dem öffentlichen Sektor.
ist ein schweizerisch-syrischer Akademiker und sozialistischer Aktivist. Er lehrt an der Universität Lausanne und ist Autor des Buches „Hezbollah: The Political Economy of Lebanon’s Party of God“.
taz: Was sind die Einnahmequellen der Hisbollah?
Daher: Die Einnahmequellen sind vielfältig. Der Iran bleibt mit Sicherheit der wichtigste Sponsor. Bis heute gibt es eine politische, wirtschaftliche und militärische Verbindung. Es gibt eine wachsende schiitische Bourgeoisie, die mit der Hisbollah verbunden ist. Zu der riesigen libanesischen Diaspora gehört auch eine schiitische Bourgeoisie, aus Westafrika, Südamerika, Europa und den USA, die finanziell zur Partei beiträgt. Sie hat legale Geschäfte durch ein Netzwerk von Geschäftsleuten mit Verbindung zur Partei ausgeweitet und auch illegale Geschäfte ausgebaut, insbesondere in Syrien beim Schmuggel von wichtigen Rohstoffen wie Heizöl und bei der Herstellung und dem Handel mit der Droge Captagon. Schließlich gibt es noch religiöse Spenden.
taz: Hat die Hisbollah eine Schlüsselrolle, wenn es um Sozialleistungen geht?
Daher: Die Hisbollah hat als Staat im Staat agiert. Durch ihr Netzwerk an Wohltätigkeitsorganisationen leistet sie eine Vielfalt an absolut notwendigen sozialen Diensten. Aber die Hisbollah ist nicht der politische Akteur, der das klientelistische, politische System etabliert hat. Die gesamte herrschende Klasse hat seit der Gründung des Staates den Aufbau eines starken Sozialstaates verhindert. Um so den Klientelismus zu nutzen und Arbeitsplätze zu schaffen, zum Beispiel in Ministerien. Keine andere politische Partei kann mit der Hisbollah mithalten in Bezug auf das Netzwerk von Institutionen, das sie aufgebaut hat, und Geldquellen von außerhalb – insbesondere Iran. Deshalb ist sie auch einer der größten, wenn nicht der größte Akteur im Libanon in den frühen 2000er Jahren. Damit trägt sie auch Verantwortung für die aktuelle Lage.
Das heißt wiederum nicht, dass die Hisbollah die Einzige ist, die für die sozioökonomische Krise verantwortlich ist. Bereits bevor die Hisbollah 2005 in die Regierung kam, wurde die Art von Ponzi-Scheme, das den Libanon in die Pleite gebracht hat, vom sunnitischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri aufgebaut. Er hat das Schneeballsystem aufgebaut,in dem die libanesischen Banken seit Anfang der 1990er Jahre hohe Zinsen boten, um Einlagen in US-Dollar anzulocken, und das Geld dann an die Regierung verliehen, die es nicht zurückzahlte. Die Hisbollah ihrerseits hat diese neoliberale Politik nicht infrage gestellt, sondern sich an ihrer Dynamik beteiligt.
taz: Wie steht es um das Image der Hisbollah als einzige Kraft, die den Libanon gegen Israel verteidigt?
Daher: Bis Anfang der 2000er gab es eine breite populäre Basis, die die Hisbollah als Widerstandskraft wahrgenommen hat. Vor allem im Jahr 2000, als Israel – mit Ausnahme der Schebaa-Farmen – aus dem Libanon abgezogen ist, und im Krieg 2006. Aber das hat sich gewandelt: Danach spielt die Hisbollah eine zunehmende Rolle innerhalb des iranischen Einflusses. Zwischen 2006 und 2023 war Palästina nicht das Hauptthema, sondern die Beteiligung am Krieg in Syrien an der Seite des Assad-Regimes und der Einsatz von Waffen gegen andere libanesische Akteure, wie die bewaffnete Übernahme von Westbeirut 2008.
Bei der Explosion von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut vor vier Jahren wird die Hisbollah als eine der Hauptakteure wahrgenommen, die die Ermittlungen verhindert. Die Hisbollah kann nicht weiter behaupten, Verteidiger der Unterdrückten im Libanon zu sein. Auch sie hat unabhängige Gewerkschaften und soziale Bewegungen wie den Aufstand 2019 bekämpft.
taz: Das Image der Hisbollah ist über die Zeit verblasst. Mit dem Krieg braucht es eine Kraft, die den Libanon gegen Israel verteidigt. Wenden sich nun mehr Menschen der Hisbollah zu, die sich eigentlich schon abgewandt hatten?
Daher: Nein. Denn es sind verschiedene Dynamiken im Spiel, darunter regionale, konfessionelle und sozioökonomische. Zwar verteidigen die Menschen im Allgemeinen das Recht auf Widerstand oder sehen die Bombardierung und Invasion Israels negativ, doch das führt nicht zu einer breiteren politischen Unterstützung der Hisbollah.
Die Spannungen innerhalb des Landes nehmen zu, und einige weigern sich, Geflüchtete oder Vertriebene aus den mehrheitlich schiitischen Gebieten aufzunehmen, aus Angst, Sektierertum und Rassismus. Die Hisbollah hat den breiten Rückhalt bei anderen religiösen Gruppen verloren. Sie ist in der schiitischen Gemeinschaft nach wie vor hegemoniale Kraft, aber jetzt gibt es mehr Kritik. Und die Frage stellt sich auch, ob die Hisbollah den Wiederaufbau nach dem Krieg leisten kann.
taz: Aber ideologisch kann die Hisbollah von der Invasion Israels nur gewinnen?
Daher: Nein, da bin ich mir nicht sicher. Es hängt davon ab, was passieren wird. Der Krieg Israels gegen den Libanon ist noch nicht zu Ende. Vieles wird davon abhängen, ob es Israel gelingt, die Hisbollah sowohl politisch als auch militärisch zu schwächen. Auch aufseiten der Hisbollah gibt es eine Entwicklung, die sich auf den Schutz ihrer Interessen und Parteistrukturen konzentriert: Die Strategie der Verbindung der militärischen Fronten im Libanon und in Gaza ist in vielerlei Hinsicht gescheitert: Die Hisbollah war nicht in der Lage, den Genozid in Gaza zu stoppen, während der Libanon stark gelitten hat. Das wird sehr in Frage gestellt.
taz: Was wäre die Alternative zur Hisbollah?
Daher: Eine starke soziale und politische Bewegung, die die Grundlage schafft für einen libanesischen Staat, der demokratisch ist, säkular und sozial gerecht ist. Wir brauchen eine starke Volksbewegung von unten – eine Art Gegenkraft aus dem Volk.
taz: Und ein starkes Militär, das den Libanon verteidigt?
Daher: Ich würde der libanesischen Armee nicht zu viel Bedeutung beimessen, die für viele Libanesen die Einheit aller Konfessionen symbolisiert. Aber sie ist weit davon entfernt, demokratisch zu sein. Wir haben die repressive Rolle der libanesischen Armee während der Massenproteste 2019 gesehen, auch wenn die Reaktion nicht mit der anderer Armeen vergleichbar ist. Auch wenn es um Palästinenser, Syrer und Arbeitsmigranten geht, ist das libanesische Militär sehr repressiv.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles