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■ Forsa-Umfrage: Wie die Deutschen die Sozialhilfe sehenDie Angst vor dem Absturz

Der Akademiker, der gutbezahlte Arbeiter, der Selbständige bilden gemeinhin das Fundament dieser Republik. Wenn diese Mittelschicht sich in Gefahr wähnt, könnte der Überbau mitsamt seinen politischen Institutionen ins Wackeln geraten. Wirtschaftliche Mühen, Mehrfachjobs und Kurzzeitverträge waren dem Mittelschichtler allenfalls von Urlaubsbesuchen in Südeuropa oder den USA bekannt. Die Probleme der Ferne aber sind schon seit langem im Sozialstaat Bundesrepublik gestrandet. In Zeiten der Globalisierung, des wirtschaftlichen Abschwungs werden die Mittelschichtler gezwungen, nach unten zu blicken.

Mehrere Etagen tiefer leben – bescheiden zwar, aber immer noch vergleichsweise besser als anderswo auf dieser Welt – schon rund 2,5 Millionen Menschen von der Sozialhilfe. Glaubt man einer Forsa-Umfrage, halten 44 Prozent der Bundesbürger die Gelder, die diesen Bedürftigen ausgezahlt werden, für angemessen. Weitere 26 Prozent plädieren gar für höhere, nur 13 Prozent für niedrigere Sozialhilfesätze. Auf den ersten Blick ein erstaunliches Ergebnis. Im Dauerfeuer der Koalition, die die Hilfen wieder einmal kürzen will, hätte man das Gegenteil erwarten dürfen: Sozialhilfe runter! Daß dieser Ruf sich nicht mehr automatisch einstellt wie vor 20 Jahren, ist so überraschend nicht. Schon lange schwindet die Selbstsicherheit der Mittelschichten. Angst vor befristeten Arbeitsverträgen, zeitweiser Arbeitslosigkeit ist für viele, zumal jüngere, Teil des Lebensentwurfs, selbst Sozialbedürftigkeit wird nicht mehr ausgeschlossen.

Das Bekenntnis zur Sozialhilfe – die schließlich auch den gesellschaftlichen Frieden zum Wohle der Mittelschichten garantiert – ersetzt aber noch lange nicht die jahrzehntelang gepflegten Ressentiments gegen ihre Empfänger. Sie gelten in den Köpfen vieler immer noch als unberechenbare Subjekte, die auf Kosten des steuerzahlenden Arbeitnehmers abzocken und daher unter Kuratel zu halten sind. Folglich wollen zwei Drittel der Forsa-Befragten – davon besonders viele Arbeiter und Selbständige – Sozialdetektive in die Spur schicken. So reproduzieren soziale Gruppen, was einst traditionelle Familienväter pflegten, die ihre Ehefrauen zur minutiösen Auflistung des Haushaltsgelds zwangen. Das Mißtrauen des Mittelschichtlers ist zugleich aber ein Mißtrauen gegen sich selbst: Ihn beschleicht die Ahnung, daß er, einmal so tief gefallen, wohl auch vieles tun würde, um irgendwie über die Runden zu kommen. Severin Weiland

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