Folkalbum von Michael Hurley: Korken auf dem Ozean
Zu seinem 80. Geburtstag bringt Michael Hurley das Album „The Time of the Foxgloves“ raus. Auf dem Cover: ein tolles Original-Hurley-Gemälde.
Plötzlich ist er wieder da. Pünktlich zu seinem 80. Geburtstag am 20. Dezember beschenkt Michael Hurley sich und die Welt mit einem neuen Album: „The Time of the Foxgloves“. Und es ist wieder mal ganz bezaubernd geworden. Hurley ist ja eine Art Wiedergänger, in unregelmäßigen Abständen erobert er das öffentliche Bewusstsein, man liest plötzlich oft über ihn, diskutiert über ihn, seine Musik wird gespielt – dann verschwindet er; man wendet sich anderen Dingen, anderer Kunst zu. Er kehrt zurück – man erinnert sich, man liebt ihn wieder, alles kommt wieder hoch. Und man ist zehn Jahre älter.
Eigentlich erschienen in den letzten Jahren regelmäßig neue Alben von ihm. Aber sortiert man sie durch, ist feststellbar, dass damit vor allem sein Archiv ausgewertet wurde. Das verrückte Gourmet-Reissue-Label Mississippi Records brachte allein zwischen 2010 und 2016 fünf Hurley-Alben auf den Markt – jeweils mit einem dieser wunderbaren Original-Hurley-Gemälde auf dem Cover. Sie machten der Öffentlichkeit weitgehend unkommentiert Aufnahmen zugänglich, die zwischen 1964 und 2016 entstanden waren.
Schalten wir kurz nach Oregon. Schönes Oregon! Hier residiert nicht nur Mississippi Records (in der größten, wenn auch nicht Hauptstadt des Staates: Portland), hier lebt auch seit Längerem Michael Hurley, in dem kleinen Städtchen Astoria am Südufer des Columbia River, kurz bevor der in den Pazifik mündet.
Vitale Folkszene
Außerdem gibt es hier eine vitale Folkszene, zu der auch das Duo The Hackles gehört, deren Mitglieder Katie Claborn und Luke Ydstie als Begleitmusiker*innen und Aufnahmetechniker*innen zu den maßgeblichen Kräften gehören, die das Erscheinen von „The Time of the Foxgloves“ möglich machten. Das Album erscheint zwar auf dem in Philadelphia ansässigen Indie-Label No Quarter, die beteiligten Facharbeiter*innen wurden aber vornehmlich aus Oregon-Bands wie Kind of Like Spitting, Made for TV Movie und Larry Yes and the Tangled Mess rekrutiert. Michael Hurley wurde mal wieder adoptiert.
Michael Hurley: „The Time of the Foxgloves“ (No Quarter/Cargo)
Das ist ein Phänomen, das seine ganze künstlerische Laufbahn durchzieht: Es gab immer Influencer*innen, Cliquen, Szenen, die ihn für sich entdeckten, ihre Begeisterung in die Welt tragen wollten, ihm etwas Gutes tun wollten und ihn deshalb ihrem Kreis hinzufügten. Zu Beginn der 1960er waren das der Pop-Folk-Superstar Bobby Darin und der Jazzpianist und Erfolgskomponist Bobby Scott („A Taste of Honey“), die fast sein Debütalbum produziert hätten.
Doch eine Tuberkulose-Erkrankung setzte Hurley für zwei Jahre außer Gefecht, und seine „First Songs“ erschienen stattdessen standesgemäß bei Folkways. Dann passierte erst mal jahrelang gar nichts.
Racoon Records
Zu Beginn der 1970er gab es in der US-Plattenindustrie den Mikrotrend, Bands der San-Francisco-Rockszene ein eigenes Label einzurichten, auf dem sie herausbringen konnten, was sie wollten. Nach den Grateful Dead und Jefferson Airplane durfte auch die heute – zu Unrecht! – vergessene Band The Youngbloods unter dem Dach von Warner das Label Raccoon Records betreiben. Und da Youngbloods-Leader Jesse Colin Young ein alter Schulfreund von Hurley war, schlüpfte er für eine Weile und zwei Alben unter dieses Dach.
In späteren Zeiten übernahmen die New Yorker Freakfolk-Urgesteine The Holy Modal Rounders, Shockabilly-Frontmann und Elektrische-Harke-Virtuose Eugene Chadbourne und die New Yorker Indierocker Yo La Tengo die Position der Adoptiveltern. Als Hurley in den 1990ern in Virginia wohnte, war es David Lowery von Camper Van Beethoven, der ihn mit den von ihm produzierten bayerischen Musikgourmets von FSK zusammenbrachte, die Hurley wiederum an das Münchener Label Veracity vermittelten.
Hurleys Rolle bei all diesen Moves war nicht unbedingt eine aktive, er ließ sich wie ein Korken auf dem Ozean mal hierhin, mal dorthin treiben und war’s, scheint’s, zufrieden.
Was aber ist es, das so toll an ihm ist, das das Feuer der Begeisterung unter immer wieder neuen, immer jünger werdenden, höchst unterschiedlichen Menschen höchst unterschiedlicher Herkunft entfacht?
Viele kluge Menschen haben sich an der Beantwortung dieser Frage versucht, so richtig gelöst wurde das Rätsel nicht. Oft bestand die Conclusio darin, Hurley die Wirkweise oder zumindest die Aura eines Zenmeisters, Buddhas oder Meister Yodas zuzuweisen – ein weiser alter Mann, sozusagen.
Reverend Gary Davis und Chuck Berry
Dabei findet sich bei Hurley sowohl in der Haltung wie erst recht in der Musik so gar nichts Asiatisches. Seine musikalischen Wurzeln sind eindeutig afroamerikanisch, liegen bei Blind Willie McTell, Reverend Gary Davis und Chuck Berry. Seine Songtexte sind sehr weltlich, lustvoll und sexy, gelegentlich gleichnishaft-verrätselt, aber nie metaphysisch oder andächtig. Zu dem Thema dichtete er mal: „I’ve got more religion / than a dog’s got fleas“.
Aber eigentlich sollte man sich Hurley nicht über einzelne brillante oder bizarre Zeilen nähern, auch wenn sich damit ein ganzer Abreißkalender füllen ließe. Interessanter ist es hinzuschauen, wie sich der Künstler mit der Form befasst, dem „Folk Song“ wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA von einer neuen Generation von Dichter*innen, Musiker*innen und Aktivist*innen neu wahrgenommen, definiert und schließlich als Arbeitsauftrag fortgeführt wurde.
Hurley ist kein Purist, er verletzt ständig die ungeschriebenen Gesetze all derer, die den Folksong zu einem regulierten Genre machen wollen. Er ist kein Virtuose, er vermengt unterschiedlichstes Material, verfährt mitleidslos mit gefundenen Objekten, spielt traditionelle Fiddle-Tunes auf einem verstimmten Wurlitzer-E-Piano, und wenn ihm eine interessante Gitarrenfigur zufällt, dehnt er Takt oder Strophe auch gerne über die erlaubte Länge hinaus.
Man könnte ihn als verspielt beschreiben, als kindlich-unbekümmert, aber er zieht eine große künstlerische Kraft daraus, die Form immer wieder neu zu testen, zu kitzeln, zu ärgern. Er reibt sich am Folksong – wohlgemerkt: musikalisch wie textlich –, wie sich Thelonious Monk an Duke Ellington und dem Stride Piano rieb. Und wie Monk bringt er so seine Liebe zur Musik zum Ausdruck.
„The Time of the Foxgloves“ ist eine für Hurleys Verhältnisse gut besuchtes Werk geworden, geradezu eine Party. Dennoch ist es vielleicht sein zartestes, am zerbrechlichsten wirkendes Album. Seine Stimme klang schon 1964 alt, jetzt wirkt sie mitunter so mitgenommen, dass man befürchtet, den nächsten Takt nur noch geflüstert zu hören – woraufhin sie sich zu einem kraftvollen, glockenhellen Falsett aufschwingt.
Drei Gesangspartnerinnen sind am Start, darunter die große Josephine Foster, die schon auf seinem 2016er Album „Bad Mr. Mike“ zwei denkwürdige Gastauftritte hatte, und diese Duettpassagen gehören zu den überwältigendsten Momenten des Albums.
Mehrstimmige Falsett-Passagen
In „Jacob’s Ladder“ etwa gelingt es Hurley und Foster, eine unfasslich zarte Textur aus Pump Organ, akustischer Gitarre, Xylophon, Bassklarinette und ihren Stimmen zu weben, von der man meint, sie würde in sich zusammenfallen, wenn man nur die Grobheit begeht, auszuatmen, die dann aber doch eine erstaunliche elastische Robustheit beweist, ohne Schaden zu nehmen durch dynamische Höhen und Tiefen gleitet und auch plötzliche Textunsicherheiten und längere mehrstimmige Falsett-Passagen souverän übersteht.
Der Hurley-Klassiker „Lush Green Trees“ erhält nicht zuletzt durch den Beitrag eines ungenannten Saxofonisten eine unerwartete Jazz-Note, „Love Is the Closest Thing“ (Hurley-Freunden bisher als „Time Is Right“ bekannt) hat im Duett mit der Singer-Songwriter-Kollegin Lindsay Clark auch wieder so eine intime Verletzlichkeit, dass man unwillkürlich ein paar Schritte zurücktritt.
Also willkommen zurück, Snocko, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, zu diesem neuen Album und zu einer einzigartigen Lebensleistung, die noch viele kommende Generationen zu Entdeckungszügen reizen dürfte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Unterbringung und Versorgung
Geflüchtetenaufnahme belastet Kommunen weiterhin deutlich