Folgenloses Gedenken an die Opfer des Holocaust reicht nicht: Kaltes Schweigen
Noch vor wenigen Jahren sah es ganz danach aus, als ob mit dem Tod der letzten Überlebenden des Naziterrors der Schrecken verblassen und die Erinnerung an den Massenmord in eine Gedenkecke des „kulturellen Gedächtnisses“ abgedrängt würde. An diesem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist offenkundig, dass die damalige Einschätzung getrogen hat. Denn die Erinnerung ist brennend präsent, auch in der Generation der Enkel. Der Kampf geht jetzt darum, wie wir uns erinnern sollen und mit welchen Konsequenzen.
Kampffeld ist nicht nur die Ebene der symbolischen Repräsentation, wo – wie im Streit um das Holocaust-Denkmal – ein vorläufiger Sieg über die Geschichtsnormalisierer errungen wurde. Symbolische Aktionen sind hilfreich, und Eli Wiesel hat gewiss Recht mit seiner Aufforderung an das deutsche Parlament, die jüdischen Menschen in aller Welt um Verzeihung für das deutsche Verbrechen an ihnen und ihren Vorfahren zu bitten. Aber weit wichtiger als solche Gesten sind Taten zu Gunsten der noch lebenden Opfer des Nazismus, und zwar aller Opfer. Wie trefflich, wie ans Herz gehend lässt sich über die Notwendigkeit des „Erinnerns“ reden und erst recht über den Beitrag der Juden zum deutschen Industrie- und Geistesleben. Und wie leicht fällt es gleichzeitig, über jenen Beitrag hinwegzugehen, den die Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg zu Nutz und Frommen Deutschlands entrichten mussten. Beteiligung am Entschädigungsfonds der Bundesstiftung oder Sich-Wegducken und kaltes Schweigen – an dieser Frage entscheidet sich heute, ob und wie der stets beschworenen „Verantwortung“ für die deutsche Geschichte Rechnung getragen wird.
Auch nach dem Washingtoner Abkommen ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung offen. Sie findet überall statt. Unter den Belegschaften der Betriebe, die von ihrer Gewerkschaft aufgefordert werden, für den Beitritt der Firmen zum Entschädigungsfonds zu kämpfen, die ehemals Nutznießer der Zwangsarbeit waren. Unter den Aktionären der Unternehmen, die keine Filialen in den USA unterhalten und im Weigerungsfall nichts zu befürchten haben. Unter den Parlamentariern Schleswig-Holsteins, wo der Antrag unterlag, am Holocaust-Gedenktag eine Debatte über die Zwangsarbeit zu führen. Und unter jenen CDU-Mitgliedern, denen die Entschuldigung ihres Chefs für die Indienstnahme „jüdischer Vermächtnisse“ zwecks Camouflage von Schwarzgeld einfach nicht ausreicht. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen