Folgen der Produktion chemischer Kampfstoffe: In Tschapajewsk vergreisen die Kinder
Im russischen Tschapajewsk leiden Kinder an geistigen Behinderungen. Nirgendwo sonst findet sich in der Muttermilch eine so hohe Konzentration von Dioxin wie in dem Notstandsgebiet an der Wolga.
MOSKAU taz Nikolai Malachow sagt, er sei von der Zeitung Nesawissimaja Gaseta falsch zitiert worden. Der Bürgermeister der russischen Stadt Tschapajewsk ist über Nacht weit über die Grenzen seiner Gemeinde und Russlands hinaus bekannt geworden. An einer Umweltkonferenz soll er laut der Zeitung vorgeschlagen haben, seine 1000 Kilometer südlich von Moskau gelegene Stadt aus ökologischen Gründen zu liquidieren und an anderer Stelle neu aufzubauen. "Eine ganze Stadt auf die Schnelle umsiedeln, wie soll das gehen?", kommentiert er die Meldung.
Eigentlich wollte der "mer", der Bürgermeister, dieser Tage ausländische Firmen als Investoren in der Region gewinnen. "Die Aussichten standen nicht schlecht, jetzt schwinden sie", sagt er. Damit nähmen auch die Chancen ab, seine durch Rückstände chemischer Kampfstoffe verseuchte Industriestadt zu sanieren. Tschapajewsk war der Geburtsort der sowjetischen Chemiewaffenproduktion in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Vor allem Senfgas, arsenhaltiges Lewisit und Sprengstoffe wurden in den vier geheimen Rüstungslabors bis zum Ende des Kalten Krieges hergestellt.
In den letzten Jahren sei die ökologische Lage erheblich verbessert worden, behauptet der Bürgermeister. Für eine komplette Umsiedlung der Bevölkerung gebe es keinen Grund. Umweltdaten weisen aber auf einen nach wie vor alarmierenden Zustand hin. Seit 1998 haben 30.000 der ehemals 100.000 Einwohner die Industriestadt in der Wolgaregion verlassen.
Krebserkrankungen und Tuberkulose treten in Tschapajewsk dreimal häufiger auf als in den benachbarten Gemeinden des Verwaltungsgebiets Samara. Auch die Sterblichkeit liegt um das Dreifache höher. Wasserproben ergaben 2006, dass 37,5 Prozent des Grundwassers nicht den Hygieneanforderungen entsprachen. Tschapajewsk ist eine der drei Städte, die in der Wolgaregion sogar von staatlichen Inspektoren zu "ökologischen Notstandsregionen" erklärt worden waren. 2005 wurde dieser Status ohne Begründung jedoch wieder aufgehoben. Nach Angaben des russischen Grünen Kreuzes, das bei der Beseitigung chemischer Kampfstoffe eng mit dem Schweizer Büro des Grünen Kreuzes zusammenarbeitet, ist die Verseuchung mit Dioxin in Wasser und Böden besorgniserregend. So erreicht die Konzentration des Gifts in der Muttermilch den höchsten Wert weltweit. Die Mediziner der Umweltorganisation sprechen vom "Tschapajewsk-Syndrom": Kinder im Säuglingsalter zeigen Alterungssymptome wie Greise und leiden an geistigen Behinderungen. Auch Fehlgeburten gibt es in der Stadt bis zu zehnmal häufiger.
Seit Mitte der neunziger Jahre wurden mehrere Hilfsprogramme entwickelt, um die gesundheitliche Vorsorge der Bevölkerung zu verbessern. Der Umweltexperte Alexander Fjodorow vom Grünen Kreuz in Moskau kommt unterdessen zu einer bescheidenen Bilanz. Das Programm "Ökologie und Umweltressourcen 2002-2010" wurde von der russischen Regierung ergebnislos eingestellt. Aus dem Rehabilitierungsplan flossen indes nur 1,4 Prozent des veranschlagten Gesamtvolumens in direkte Hilfsmassnahmen. 1,8 Milliarden Franken wären erforderlich, um die Böden zu sanieren und die Schadstoffemissionen nachhaltig zu verringern.
Mit der Beseitigung der Altlasten ist jedoch noch nicht alles getan. Die gefährlichste Giftschleuder der Stadt heute ist die Chemie- und Düngemittelfabrik Srednewolschski Sawod Chimikatow (Mittelwolga). Auf Feldern und Gärten in der unmittelbaren Umgebung überschreitet die Dioxinbelastung den zulässigen Wert um das 400- bis 800-Fache. "Zu viel", meint auch Nikolai Malachow. Er hofft zumindest genügend Geld aufzutreiben, um die Einwohner der zwei Dutzend Häuser neben der Fabrik umzusiedeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!