Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Berlin: Ein Gespenst geht um in Europa
Bald dürfen osteuropäische Arbeitnehmer uneingeschränkt in Deutschland arbeiten. Wie viele kommen, weiß keiner genau. Aber ein Mindestlohn für alle wäre hilfreich.
Wenn die Berliner am 1. Mai den "Tag der Arbeit" feiern, schwingt beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Sorge mit. Denn ein Tag der Arbeit in Deutschland ist der 1. Mai auch für die Bürger der acht mittel- und osteuropäischen Staaten, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union (EU) beigetreten sind: Für Polen, Slowaken, Tschechen, Ungarn, Slowenien, Esten, Letten und Litauer gilt dann in Deutschland die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Deutschland hatte mit Österreich als einziges EU-Land die Öffnung des Arbeitsmarktes auf die maximal zuässige Dauer von sieben Jahren ausgesetzt.
Der rot-rote Senat sieht dem Datum gelassen entgegen. "Ich glaube nicht, dass mit dem 1. Mai massenhaft Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa nach Berlin kommen werden", sagte Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) der taz. "Die meisten, die kommen wollten, sind schon da." Allerdings fordert Wolf, den Mindestlohn auf Branchen auszudehnen, die bislang nicht im Entsendegesetz vertreten sind. "Wir brauchen einen Mindestlohn, und der gilt für alle."
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gehört wie die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zum freien Binnenmarkt der Europäischen Union. Arbeitnehmer aus den neuen EU-Ländern können sich damit auf Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewerben, ohne dass die Agentur für Arbeit ihnen eine Ausnahmegenehmigung erteilt. Für Bürgerinnen und Bürger aus Rumänien und Bulgarien, die 2007 der EU beigetreten sind, gelten die Einschränkungen bis Ende 2013.
Wie Berlin erwartet auch die brandenburgische Landesregierung keinen massenhaften Zuzug aus Polen. "Die meisten werden dorthingehen, wo die Löhne höher sind - nach Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg", sagte Arbeitsminister Günter Baaske (SPD) unlängst im rbb. Viele Brandenburger Kommunen hoffen vielmehr, dass sich Fachkräfte aus den östlichen Nachbarländern für sie interessieren. "Die völlige Arbeitnehmerfreizügigkeit ist als Chance zu nutzen, um den demografischen Wandel in Ostbrandenburg positiv zu beeinflussen", heißt es etwa in einer Erklärung, die von Frankfurts Oberbürgermeister Martin Wilke (parteilos), der Industrie- und Handelskammer, aber auch dem DGB und der Agentur für Arbeit unterzeichet wurde.
Unklar ist, wie viele Arbeitnehmer ab dem 1. Mai nach Deutschland und in die Region kommen werden. Die Agentur für Arbeit geht davon aus, dass in den kommenden vier Jahren zwischen 100.000 und 150.000 Arbeitssuchende nach Deutschland kommen werden. Für Berlin wird eine Zuwanderung von 34.000 Menschen prognostiziert. Allerdings will die Warschauer Demografieprofessorin Krystyna Iglicka nicht ausschließen, dass die Zahl weitaus höher sein könnte. In einem Interview mit der DGB-Zeitschrift Gegenblende sagte Iglicka, dass in den nächsten anderthalb Jahren bis zu eine Million Polen in Deutschland Arbeit suchen könnten. Damit würde sich die polnische Arbeitsmigration von Großbritannien nach Deutschland verlagern. Großbritannien war mit Irland und Schweden das einzige Land, dass seinen Arbeitsmarkt 2004 sofort öffnete.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial und fair gestalten - das fordert der DGB in der Region. Doro Zinke, Vorsitzende des Bezirks Berlin-Brandenburg sagte: "Ziel muss es sein, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort sicherzustellen." Sie fürchtet, dass vor allem im Pflegebereich und in der Zeitarbeitsbranche Mindestlöhne unterlaufen werden könnten.
Nach Auffassung von Wirtschaftssenator Wolf hingegen bietet der Stichtag 1. Mai die Möglichkeit, bestehende Arbeitsverhältnisse zu legalisieren. Darüber hinaus könnten geprellte Arbeitskräfte nun ihren Lohn einklagen. Zusammen mit dem DGB will Wolf dafür eine Beratungsstelle einrichten.
Mit großer Sorge blickt indes der Türkische Bund dem 1. Mai entgegen. "Es ist zu befürchten, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärft", sagt der regionale Sprecher Hilmi Kaya Turan. Er fordert, dass mehr Dauerarbeitslose als bisher fortgebildet werden, um gegen die Konkurrenz gewappnet zu sein.
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