Flüchtlingswelle nach Lampedusa: "Es war wie ein Fest"
Tausend Euro zahlen hunderte Tunesier für ein Ticket in die goldene Zukunft in Europa. Doch für Mohammed und Abdallah wurde es ein tödlicher Trip.
ZARZIS taz | Mogliya und Amor Zair können es einfach nicht fassen. Sie sitzen auf dem Sofa in der Eingangshalle ihres Häuschens und blättern immer wieder das Fotoalbum durch. Es zeigt ihren 23-jährigen Sohn Mohammed. Ein fröhlicher Kellner, mal mit Kollegen, mal mit Gästen und immer wieder mit jungen Europäerinnen. Heitere Stimmung in einem Strandhotel der südtunesischen Stadt Zarzis, unweit der bekannten Urlaubsinsel Djerba. Ein anderes Bild zeigt den 17-jährigen Enkel Abdallah. Ein Schüler kurz vor dem Abitur, mit Freunden, beim Rumblödeln. "Mohammed und Abdallah sind verschwunden, wahrscheinlich tot", erklärt Amor mit starrem Blick. "Das Boot, mit dem sie nach Lampedusa übersetzen wollten, ist untergegangen."
Die Fahrt ins vermeintlich bessere Leben endete in einer Katastrophe. "Das Boot wurde auf hoher See vom tunesischen Militär gerammt. Von 120 Insassen überlebten 90. Fünf wurden tot geborgen, 25 sind nie wieder aufgetaucht", berichtet der 58-jährige Familienvater mit monotoner Stimme. Nach langem Schweigen murmelt er dann: "Die beiden sind einfach losgefahren. Hätten sie doch nur etwas gesagt, ich hätte es ihnen verboten." Seine Frau nickt mit völlig verweinten Augen. Tochter Mouna, die Mutter von Abdallah, ist regungslos, wie unter Schock. Ihre kleine Schwester Hana surft ohne Unterlass in Facebook, wo sie die Fotos der Opfer der Tragödie eingestellt hat. Sie fordert, dass die verantwortlichen Militärs für den Vorfall zur Rechenschaft gezogen werden.
Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Februar. Um zwei Uhr morgens legte das völlig überfüllte Fischerboot in Zarzis ab. 150 Kilometer hatten die 120 Insassen vor sich. 2.000 Dinar - 1.000 Euro - hatte jeder von ihnen bezahlt. Hinter ihnen lag Tunesien mit seinen schlechten Löhnen, vor ihnen Lampedusa und damit Italien und Europa. "Alle kamen von hier aus der Gegend. Viele waren arbeitslos, andere hatten schlecht bezahlte Gelegenheitsjob", erzählt Lezhar Lazlam, einer der 90 Überlebenden der Tragödie. "Selbst wenn du Arbeit hast, kommst du mit dem Lohn nicht weit. Wer will nicht in einer eigenen Wohnung leben, heiraten, Kinder haben, ein Auto haben?", fragt der 25-Jährige, der bis zu jenem Tag eine Lieferwagen fuhr - für umgerechnet 100 bis 120 Euro im Monat.
Neue Welle: Erneut haben rund 130 Flüchtlinge die süditalienische Insel Lampedusa erreicht. Ein weiteres Boot mit Kurs auf die Insel sei bereits gesichtet worden, berichteten italienische Medien am Montag. Der Großteil der neuen Flüchtlinge stamme aus Gabés, hieß es. Auf dem 4.500 Einwohner zählenden Lampedusa befänden sich im Moment 1.300 Flüchtlinge.
Frontex: Am Sonntag startete auf Lampedusa der Einsatz "Hermes" der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Brüssel reagierte mit der Mission auf dringende Forderungen aus Rom nach europäischer Hilfe. Flugzeuge und Patrouillenboote unterstützen nun die italienische und maltesische Küstenwache bei der Kontrolle der Gewässer zwischen Lampedusa und Nordafrika. Außerdem sollten im Laufe der Woche etwa 30 Experten aus den anderen Mitgliedsstaaten nach Lampedusa entsandt werden, um Italien bei der Identifikation der Flüchtlinge zu helfen. (dpa)
Auch Mohammed und Abdallah Zair hatten ihre Träume. Die beiden wollten die Familie unterstützen. Mohammed, der die Sommersaison im Hotel kellnerte, sah mit Sorge, wie nach der Revolution die Touristen ausbleiben. Vater und Mutter arbeitslos, Schwester Hana studiert Englisch in der Hauptstadt Tunis, und Schwester Mouna und deren Mann, die Eltern von Abdallah, sind ebenfalls ohne feste Einkünfte. Mit der Reise nach Europa wollten die beiden jungen Männer helfen, diese Misere zu meistern.
Unbewachter Hafen
"Es war wie ein Fest", erinnert sich Mohammed Mzem, der dem Tod im Mittelmeer ebenfalls nur knapp entkam, an den Tag der Abfahrt. "Der Hafen war unbewacht", berichtet der 35-Jährige. Nach dem Sturz des Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali verschwand fast überall in Tunesien die Polizei aus dem Straßenbild. Die Beamten hatten plötzlich Angst vor den Bürgern, die sie so lange unterdrückt hatten. Die Polizei wurde durch die Armee ersetzt. Diese hatte genug damit zu tun, wichtige Gebäude und die Bevölkerung vor Milizen und Präsidentengardisten zu schützen, die das Chaos sähen wollten, bevor sie ins benachbarte Libyen flüchteten.
"Es war eine einzigartige Gelegenheit. Wer irgendwie das Geld zusammenbringen konnte, kaufte sich einen Platz auf einem der Boote", berichtet Mzem. Er sei trotz schwieriger Arbeitsmarktlage nie zuvor auf die Idee gekommen auszuwandern. Aber die allgemeinen Stimmung habe ihn angesteckt. 3.000 meist jungen Menschen aus Zarzis ging es ähnlich. Weitere 2.000 kamen aus dem Landesinneren.
Mohammed und Abdallah Zair und die anderen 28 hatten unerhörtes Pech. Nachdem immer mehr Flüchtlingsboote aus Zarzis auf Lampedusa eintrafen, warnte die Regierung Berlusconi vor einer humanitären Krise und bot Tunesien Soldaten für den Küstenschutz an. In Europa lösten die Vorfälle eine politische Debatten über die Flüchtlingspolitik aus. Die Übergangsregierung in Tunis kam unter Druck. Soldaten bewachen seither den Hafen. Die Küstenwache wurde aktiv und brachte das Boot in jener Nacht auf und rammte es. "Wir kenterten und gingen binnen einer Minute unter", berichtet Mzem. "Ob es ein Unfall war oder Absicht, kann ich nicht sagen. Die Verantwortlichen müssen so oder so zur Rechenschaft gezogen werden", fordert auch er.
Draußen im Hafen zeigte sich das ganze Ausmaß des Goldrausches von Zarzis. "Die Bucht war voller Fischerboote", weiß der Schiffsmechaniker Kenizi Faiçal zu berichten. Jetzt liegt der Kutter, auf dem er arbeitet, fast alleine im Wasser. Faiçal wundert nicht, was passiert ist. "Der Fischfang läuft immer schlechter, der Sprit und die Ersatzteile werden immer teurer. Da ist es schon fast nicht mehr rentabel, hinauszufahren", erzählt der 48-jährige, sonnengegerbte Mann. Das Mittelmeer sei durch die großen Fangflotten aus Europa völlig überfischt. "Die Schleppnetze zerstören den Meeresgrund. Viele Arten reproduzieren sich nur noch langsam. Im küstennahen Bereich und in den nationalen Gewässern gehen die Fänge seit Jahren zurück", weiß Faiçal.
Einfache Rechnung
Der drahtige Mann turnt an Deck herum und bereitet alles für den Sardinenfang vor. Dann hält er erneut inne und macht eine einfache Rechnung auf: "Viele Besitzer haben hohe Schulden bei der Bank. Wenn du das Schiff an jemanden verkaufst, der 1.000 bis 1.250 Euro pro Passagier nimmt und auf einem Kutter wie dem hier 200 Passagiere unterbringt, kannst du den Kredit begleichen und mit etwas anderem anfangen." Die Flüchtlingswelle als Mittel zur Abwicklung eines krisengeschüttelten Sektors.
Dabei sieht die 120.000-Einwohner-Stadt Zarzis gar nicht arm aus. Überall stehen prächtige Häuser. An Geschäften, Cafés und Restaurants fehlt es auch nicht. "Der erste Eindruck trügt", meint dennoch Hamed Bouzoumita. "Die Villen gehören Auswanderern, die meist in Frankreich arbeiten", erzählt der 62-jährige Aktivist der Gewerkschaft UGTT und der Menschenrechtsliga LTDH. Von ihrem Geld überleben viele im Ort. "Wenn sie im Sommer mit ihren guten Autos kommen, hast du hier den Eindruck, in einem französischen Departement zu sein", sagt Bouzoumita beim Kaffee in einem kleinen Bistro an einem zentralen Kreisverkehr, der seit der Revolution im Gedenken an die Opfer der Repression Platz der Märtyrer heißt.
"Das hat das Bürgerkomitee beschlossen", erklärt Bouzoumita stolz. Auch er gehört dem Gremium der Oppositionskräfte an, das die Geschicke von Zarzis lenkt, seit kurz nach dem Sturz Ben Alis der Gouverneur der Region und der Delegierte für den Kreis Zarzis vertrieben wurden.
"Vernachlässigter Süden"
Dann kommt er auf die "Politik in Tunis" zu sprechen. Er schimpft nicht etwa auf die Regierung, sondern auf die Opposition. Der Menschenrechtler ist sauer auf seine Kollegen in der fernen Hauptstadt. Diese haben über die Presse verbreitet, dass vor allem ehemalige Polizisten und flüchtige Häftlinge von Zarzis aus nach Lampedusa übersetzen. Die Boote seien aus dem benachbarten Libyen gekommen. "Sie behaupten, es handle sich um einen Versuch. dem neuen Tunesien zu schaden. Das ist falsch." Der Grund für die Auswanderungswelle sei viel simpler: "Der Süden wird seit jeher vernachlässigt." Es fehle eine regionale Entwicklungspolitik, und das wolle keiner sehen.
Nicht nur der Fischfang steckt in der Krise. Es gibt so gut wie keine Industrie. Der Freihafen konnte mit denen in der Industriestadt Sfax, weiter im Norden, und in der Region Tunis noch nie konkurrieren. Diese waren fest in der Hand des Präsidentenclans. Alle wichtigen Importe und Exporte finden deshalb dort statt. "Von den Einnahmen aus dem Erdöl, das in Zarzis verladen wird, hat die Region auch nie etwas gesehen", fügt Bouzoumita hinzu.
Die Olivenhaine, die einzige landwirtschaftliche Aktivität, werfen immer weniger ab. Zarzis liegt am Rande der Sahara. Der Klimawandel mit seinen steigenden Temperaturen und zurückgehenden Niederschlägen ist hier deutlich zu spüren. Die Wüste breitet sich aus. Die Einkommen in den wenigen Touristenhotels am Ort sind niedrig, die Trinkgelder werden immer spärlicher. Es kämen meist Pauschaltouristen aus Osteuropa und bei denen sitze der Geldbeutel vor allem jetzt in der Krise bei weitem nicht so locker.
"Wer vom besseren Leben träumt, träumt von Europa". Bouzoumita klingt resigniert. Nacht für Nacht war er mit anderen Gewerkschaftern am Hafen, um die Jugendlichen von der Überfahrt nach Italien abzuhalten. Sie erzählten von der Krise in Europa, von den schlechten Lebensbedingungen der Einwanderer ohne Papiere, davon, dass die Zeiten, in denen ein Emigrant reich und mit großen Auto zurückkommt, längst vorbei seien, und er mahnte, dass Tunesien seine Jugend jetzt, nach dem Sturz Ben Alis, mehr brauche denn je. Es nutzte alles nichts.
Dabei hatten sich viele derer, die jetzt gegangen sind, an den Protesten gegen die Diktatur, die Ende Dezember auch Zarzis erfassten, beteiligt. "Politisch erleben wir eine Zeit der Freiheit und der Hoffnung, doch die wirtschaftliche Lage in der Region ist so schlecht, dass die jungen Menschen einfach nicht die Geduld hatten, auf Besserung zu warten. Die Tür stand offen, die Versuchung war zu groß", meint Bouzoumita und schaut dabei nachdenklich vor sich auf den Tisch. Kopfschüttelnd fügt er hinzu: "Wir haben alle unserer Fischereiboote und vor allem eine ganze Generation verloren. Eine Katastrophe."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen