Flüchtlingspolitik Europa: Anlaufstelle Istanbul
In der größten Stadt der Türkei können Illegale gut untertauchen. Von hier suchen sich viele Flüchtlinge aus Afrika oder Asien einen Weg in die EU.
ISTANBUL taz | Gérard* friert. Er ist erst vor wenigen Tagen in Istanbul angekommen, und der Winter zeigt sich von seiner unangenehmen Seite. Es ist nasskalt. Obwohl der Raum geheizt ist, zieht Gérard seine Jacke nicht aus, er nimmt nicht einmal die Kapuze ab. Bekannte haben ihn mitgebracht. Hungrig schaut er auf einen langen Tisch, auf dem gerade etliche Portionen Fertigmahlzeiten gestapelt werden. Es dauert noch einen kleinen Moment, aber dann wird Gérard nach Tagen ohne richtiges Essen endlich eine warme Mahlzeit bekommen.
Das Essen ist eine Spende der orthodoxen Kirche. In einem Gemeindesaal der Kirche Hagia Triada, ein großer, erst kürzlich restaurierter eleganter Bau direkt am zentralen Taksim-Platz, gibt es einmal in der Woche, am Samstagmittag, eine kostenlose Mahlzeit für Flüchtlinge.
Die wenigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich in Istanbul um Flüchtlinge kümmern, konzentrieren sich vor allem auf Frauen und Kinder, die Schwächsten im großen Treck, der sich Jahr für Jahr, Monat für Monat und Tag für Tag aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten über Istanbul in Richtung Europa bewegt. Für Männer bleibt nur der Samstagmittag in der Hagia Triada, um etwas zu essen zu ergattern.
Geltendes Recht: Bisher können in der Türkei nur Flüchtlinge aus Europa, zum Beispiel Bosnier, Asyl beantragen. Eine Ausnahme bilden Kaukasier - es leben besonders viele Tschetschenen und Abchasen in der Türkei. Der Umgang mit Flüchtlingen in der Türkei ist derzeit aber im Umbruch.
EU-Flüchtlingspolitik: Die EU will die Türkei in ihr Management integrieren, was vor allem bedeutet, dass das Land die Flüchtlinge, die via Türkei in die EU gekommen sind und aufgegriffen wurden, wieder zurücknehmen soll. In erster Linie die Flüchtlinge aus den griechischen Lagern, aber auch "Altfälle" aus Deutschland und anderen EU-Ländern. Dafür soll die Türkei finanzielle Unterstützung erhalten. Im Gegenzug verlangt Ankara, dass die EU einer erleichterten Visavergabe für türkische Bürger zustimmt.
Neues Asylrecht: Noch im Februar soll der Rat der Innen- und Justizminister der EU in Brüssel über ein Paket abstimmen, das die EU-Kommission im letzten Jahr mit Ankara verhandelt hat. Ein Punkt davon sieht ein neues, den EU-Normen angepasstes Asylrecht in der Türkei vor. (jg)
Es sind fast ausschließlich Afrikaner und ausschließlich Männer, die sich an diesem Samstag einfinden. Ein Bekannter von Gérard, der seinen Namen nicht nennen will und auf die Frage, von wo er komme, lediglich "Afrika" antwortet, hat ihm für den Anfang einen Tipp gegeben, wo er schlafen kann. Es ist ein Keller, erzählt Gérard, in den er sich nachts verkriecht. Bei anderen Afrikanern, die er bislang kennengelernt hat, ist kein Platz mehr, und Geld für ein billiges Hotel hat er nicht.
Gérard kommt von der Elfenbeinküste. Man hat ihn geschlagen und bedroht. Er will sofort seine Jacke ausziehen, um seine Narben zu demonstrieren. Sein Ziel ist England, Freunde von ihm leben dort: "Sie werden mir helfen." Allerdings hat er im Moment keine Ahnung, wie er dort hinkommen soll. "Ich hab schon einen langen Weg hinter mir, irgendwie werde ich es schon schaffen", sagt er. Doch zunächst hat er andere Sorgen. Was soll er morgen essen, wo soll er demnächst schlafen? "Ich brauche einen Job", sagt er, "das ist jetzt das Wichtigste".
Das Tor nach Europa
Alle Männer erhalten eine Nummer. Nach und nach können sie sich nun ihre Portionen abholen. Die meisten nehmen das abgepackte Essen gleich mit, kaum jemand setzt sich an die Tische im Gemeinderaum der Hagia Triada. Allein oder in kleinen Gruppen machen sie sich auf den oft weiten Weg zu ihren improvisierten Unterkünften in den Vororten der Stadt. In wenigen Minuten sind alle verschwunden, verschluckt von der riesigen Metropole am Bosporus.
Istanbul ist in den letzten Jahren immer mehr zu einem Sammelpunkt für Flüchtlinge aus aller Welt geworden. Seit die Türkei die Visapflicht für die meisten arabischen Länder abgeschafft hat, kann man für 60 Euro von Marokko oder Algerien nach Istanbul fliegen. Von Istanbul aus beginnt dann die letzte Etappe in Richtung Europäische Union.
Mehr als 80 Prozent der gesamten illegalen Einwanderung in die EU läuft über die Türkei nach Griechenland, behauptet Frontex, die 2005 gegründete EU-Agentur zum Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union. Im letzten Jahr wurden mehr als 50.000 illegale Flüchtlinge auf der griechischen Seite der Grenze aufgegriffen, die Dunkelziffer dürfte erheblich größer sein.
Der einfachste Weg über die Grenze befindet sich in der Nähe der türkischen Stadt Edirne, die im Länderdreieck Türkei, Bulgarien und Griechenland liegt. Während der schwer zu überwindende Fluss Evros (türkisch: Meric) über knapp 200 Kilometer lang die Grenze markiert, gibt es bei Edirne einen 12 Kilometer langen Streifen, an dem die Grenze durch Wiesen und Felder verläuft. Griechenland hat bereits angekündigt, diesen Streifen zukünftig durch einen elektronisch überwachten drei Meter hohen Zaun schließen zu wollen - aber noch ist es nicht so weit.
Edirne ist von Istanbul aus nur drei Autostunden entfernt. Die Fahrt mit dem Bus kostet lediglich 5 Euro. Deshalb bereiten fast alle Flüchtlinge ihren Sprung in die EU in Istanbul vor, hier finden sie auch am einfachsten einen Schlepper, der sie über die Grenze bringt. Kein Flüchtling will länger als nötig in Edirne bleiben, einer Kleinstadt, in der man nicht so leicht untertauchen kann.
"Viele glauben außerdem, in Istanbul sind sie schon in Europa. Doch da haben sie sich schwer getäuscht." Gaspar ist ein Veteran in Flüchtlingsfragen. Tatsächlich war er selbst einmal einer, doch im Laufe der Jahre, in denen er in Istanbul hängen blieb, ist er jetzt vom Flüchtling zum Flüchtlingshelfer geworden.
Er gehört zu den Leuten, die die Essensausgabe in der Hagia Triada organisieren. "Istanbul", sagt Gaspar, "bietet den Flüchtlingen nichts. Keine Unterkunft, keine materielle Hilfe und keine Sicherheit. Im Gegenteil, viele Polizisten misshandeln Flüchtlinge und nehmen ihnen ihr letztes Geld weg."
Die IHH und der UNHCR
Eine der wenigen türkischen Organisationen, die sich um Flüchtlinge kümmert, ist die Insan Yardim Vakfi (IHH), die im letzten Jahr durch ihren Schiffskonvoi nach Gaza international Schlagzeilen machte. "Wir arbeiten mit dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR zusammen", sagt Hüseyin Oruc, stellvertretender Vorsitzender der IHH.
Bei der Frage, wie genau denn diese Zusammenarbeit aussieht, bleibt er vage, redet von Beratung und humanitärer Hilfe. Allerdings verwahrt er sich scharf gegen den von anderen NGOs erhobenen Vorwurf, die IHH würde lediglich muslimische Flüchtlinge unterstützen. "Natürlich nicht. Religion und Herkunft spielen bei uns keine Rolle. Wir sind auch im Ausland in nichtmuslimischen Ländern aktiv", sagt er und verweist auf das Beispiel Haiti.
Ein inoffizieller Zusammenschluss verschiedener kleiner christlicher Gemeinden im Stadtteil Beyoglu hat eine Sammelstelle für Altkleider eröffnet und verteilt zweimal in der Woche Essen an Mütter und Kinder. Die Helfer dort raten den Flüchtlingen, sich im Büro des UNHCR zu melden und als Flüchtlinge registrieren zu lassen.
Doch die meisten wollen das nicht. Zum einen, weil sie nachweisen müssten, dass sie in ihrem Land politisch verfolgt wurden, was die wenigsten können. Und zum anderen, weil sie dann in irgendeine Provinzstadt geschickt werden, bis sich ein Aufnahmeland gefunden hat. Die türkischen Behörden bestehen darauf, dass sich nicht alle Flüchtlinge in Istanbul sammeln.
Beim UNHCR lassen sich hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Iran und aus dem Irak registrieren. Sie haben die besten Chancen, als politische Flüchtlinge anerkannt zu werden und ein Aufnahmeland in Europa oder Nordamerika zu finden. Fast alle anderen schlagen sich allein durch oder stützen sich auf ihre Landsleute und Glaubensbrüder.
Sonntagmorgen, 9 Uhr. Über den Hof der größten Istanbuler Kirche St. Antoine, die direkt an der Istiklal Caddesi, der bekanntesten Flaniermeile der Stadt, liegt, huschen gegen Regen und Kälte eingemummte Gestalten zu einer Treppe, die seitlich an der Kirche entlang in die Tiefe geht. Die Treppe führt zu einer Kapelle, die unterhalb des Kirchenschiffes in den Fels gehauen wurde. Hier feiern chaldäische Christen aus dem Irak wöchentlich ihren Gottesdienst. Es sind vielleicht 200 Leute versammelt, darunter auch viele Familien mit Kindern.
Wohin mit den Kindern?
"Viele hier", erzählt Maria nach dem Gottesdienst, "sind schon seit Jahren da". Marias Familie kommt aus Bagdad und floh, als sich die Lage für Christen nach dem Sturz Saddam Husseins verschlimmerte. Eigentlich fühlt sie sich in Istanbul ganz wohl, aber trotzdem will die Familie lieber nach Europa. "Wegen der Kinder", sagt Maria.
Da der Aufenthaltsstatus für Flüchtlinge in der Türkei meist unklar ist, dürfen ihre Kinder nicht zur Schule gehen. Es gebe Ausnahmen, aber es sei sehr schwer, ein Kind in einer Schule unterzubringen, erzählt Gaspar. "Man braucht ein offizielles Dokument, Geld für die Schuluniform und Bücher, und dann müssen die Kinder ja auch erst einmal Türkisch lernen."
Für Gérard und die anderen allein reisenden Männer sind solche Fragen völlig uninteressant. Sie wollen sowieso nicht in der Türkei bleiben, sondern so schnell wie möglich weiter. Die Nachricht, dass Eile auch deshalb geboten ist, weil Griechenland plant, einen Zaun an der Grenze zur Türkei hochzuziehen, löst bei den Männern im Gemeindesaal der Hagia Triada trotzdem nicht viel mehr als ein Achselzucken aus. "Wenn sie eine Stelle zumachen, finden wir eine andere", ist sich Gérard sicher. "Spätestens nächstes Jahr bin ich in England."
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe