Flüchtlingslager im Kongo: Großstadt ohne Häuser

Auf der Flucht vor den Rebellen siedelt eine komplette Kleinstadt in die Grundschule Grüner See um. Trinkwasser- und Lebensmittelknappheit bedrohen den Alltag ebenso wie Krankheiten.

Die Straße nach Goma verspricht Nahrung und Trinkwasser. Bild: ap

Seit drei Wochen kämpfen in der Provinz Nord-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo Regierungstruppen gegen rebellierende Einheiten des Tutsi-Generals Laurent Nkunda. Die Regierung wirft Nkunda vor, sich der Eingliederung in die reguläre Armee zu widersetzen; Nkunda sagt, die Regierungsarmee arbeite im Ostkongo mit ruandischen Hutu-Milizen zusammen, die die Tutsi der Region auslöschen wollen, und daher muss er seine eigene Armee behalten. Die Kämpfe haben nach UN-Angaben schätzungsweise 70.000 Menschen in die Flucht getrieben. Nord-Kivu zählt bei einer Bevölkerung von 5 Millionen Menschen insgesamt rund 750.000 Kriegsflüchtlinge.

Es ist eng geworden auf dem Schulhof. Wo sonst Kinder auf schwarzen Felsen unter Bäumen spielen, gibt es kaum ein Durchkommen zwischen den Massen schwitzender, ungeduldiger Menschen. Die kongolesischen Mitarbeiter des Hilfswerks "Solidarités" haben an diesem Tag Holztische aufgestellt, an die sie einen Flüchtling nach dem anderen herantreten lassen: Ausweiskontrolle, handschriftliche Namenseintragung in eine Liste, Ausgabe eines Berechtigungsscheins. Aber wie sollen ein Dutzend Helfer an einem Tag ein paar zehntausend Menschen registrieren? Die Leute drängeln sich unwirsch gegeneinander, nur mit Mühe von Ordnern in orangenen Jacken zurückgehalten. Die Flüchtlinge sind müde. Sie können in der heißen Mittagssonne nicht so lange warten. Sie haben ja zum Teil seit Tagen nichts gegessen.

Schuldirektor Chuma Mulwa, ein kleiner, feiner Mann mit listigen Augen, hat die Flüchtlinge in seiner Schule selber gezählt: genau 1.998, berichtet er stolz. Seit dem 26. August sind sie da, geflohen vor dem neuen kongolesischen Krieg. "Sie wollten in die Klassenzimmer, und wir konnten sie ja nicht draußen lassen", erzählt er. Damals waren noch Schulferien. Aber jetzt sind sie immer noch da, und die Grundschule "Grüner See" ist zum Kern eines Flüchtlingslagers geworden, das immer weiterwuchert: 10.000 Menschen Anfang September, rund 25.000 einige Tage später, und diese Woche nennt Lagerleiter Ani Mukima die Zahl von 9.817 Haushalten, was bei einer Durchschnittsgröße von fünf Personen pro Haushalt an die 50.000 Menschen bedeutet.

Es ist leicht, im Kongo vor Kämpfen auszuweichen und sich ein paar Kilometer weiter provisorisch in Sicherheit zu bringen. Man sammelt biegsame Zweige, steckt zwei Reihen in die Erde, biegt sie oben aufeinander zu und bindet sie zusammen. Dann deckt man das Holzgerüst mit Bananenblättern ab, und schon steht eine kleine Hütte, in die eine Mutter mit ihren kleinen Kindern nachts hineinkriechen kann. Aber nach dem ersten Gewitter ist die Hütte meistens dahin. Wenn sich nach zwei Wochen immer noch keine Plastikfolie als Regenschutz gefunden hat und wenn es außerdem nichts zu essen gibt, dann werden die Kinder krank und die Eltern verzweifelt. Und wenn einen Meter weiter die nächste Hütte voller hungriger Kinder steht, und dann noch eine und noch eine und so weiter, kilometerweit, dann ist das eine humanitäre Katastrophe.

Die komplette Bevölkerung der Kleinstadt Sake, Zentrum der jüngsten Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen des Tutsi-Generals Laurent Nkunda im Osten Kongos, hat sich in das improvisierte Lager "EP Lac Vert" (Grundschule Grüner See) begeben. Sake liegt idyllisch an der Nordwestecke des Kivu-Sees, am Fuße eines mächtigen Bergmassivs, wo die Nkunda-Rebellen ihre Hochburg haben. Aus Sake, Vorposten der Regierungstruppen, führt eine Teerstraße 30 Kilometer östlich in die Metropole Goma, Hauptstadt der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu mit 500.000 Einwohnern. EP Lac Vert, wo die Einwohner von Sake sowie der Nachbargemeinde Kimoka jetzt wohnen, liegt in der Gemeinde Mugunga, genau auf halbem Wege zwischen Sake und Goma. Es ist das größte einer ganzen Reihe von Lagern dort.

"Wir kamen am Montag, 3. September", erzählt der junge, stämmige Lagerleiter Ani Mukima, der eigentlich in Sake Grundschullehrer ist. "Frühmorgens um vier hörten wir Schüsse bei Kimoka, das Militär kämpfte mit den Aufständischen, also sind wir weggegangen." Nach Mugunga läuft man einen halben Tag, und da waren ja schon die anderen, in der Schule Grüner See, die eine Woche vorher bei den ersten Kämpfen weggegangen waren. Der 3. September war der Tag, an dem die Regierungsarmee aus Versehen unweit von Sake die Zivilbevölkerung bombardierte. Viele weitere Flüchtlinge kamen dann am 6. September, als Nkundas Rebellen Sake kurzzeitig einnahmen und die Regierungsarmee weglief. Seitdem hält dort ein brüchiger Waffenstillstand, aber noch immer kommen neue Flüchtlinge nach EP Lac Vert. Man erkennt sie daran, dass die Bananenblätter auf ihren Hütten noch ganz frisch sind.

Viele der Menschen hier sehen aus wie auf einem schiefgegangenen Wochenendausflug. Marcelline Manene und Elise Sifa haben für die Flucht ihre besten Kleider angezogen, weiße Blusen mit bunten Röcken. Sie nahmen weiter nichts mit, es sollte ja nicht lange dauern. Aber jetzt richten sie sich auf einen langen Aufenthalt ein, sie schwitzen, aber zum Wechseln gibt es nichts und waschen kann man sich auch nicht. "Wir kamen am 3. September, als die Bomben fielen", sagen sie. Und jetzt? "In unseren Häusern ist jetzt das Militär."

Wovon leben Marcelline und Elise nun? "Wir schlagen Brennholz im Wald und verkaufen es an die lokale Bevölkerung." Für ein Bündel Holz kriegt man 100 Franc, rund 0,15 Euro. Dafür kann man auf dem winzigen Markt von EP Lac Vert vier Kochbananen kaufen oder ein paar kleine Süßkartoffeln. Aber die junge, pausbäckige Elise Sifa hat sieben Kinder, die ältere und verhärmte Marcelline Manene acht. Zum Kochen braucht man Wasser. Ein großer Wasserbehälter kostet 1.000 Franc, also zehn Holzbündel, das schafft man nicht so leicht, vor allem wenn man Hunger hat. Gibt es wenigstens jeden Tag etwas für die Kinder? Sie lachen traurig und höhnisch.

Es ist nur eine Viertelstunde Autofahrt von Mugunga nach Goma, wo es alles zu kaufen gäbe und dutzende Hilfswerke große Lebensmittellager unterhalten. Von mangelnder Erreichbarkeit, wie es Nord-Kivus Hilfswerke für vier Fünftel der knapp 300.000 bekannten Kriegsflüchtlinge der Kampfregion beklagen, kann in EP Lac Vert keine Rede sein. Aber Hilfe läuft in Mugunga nur schleppend an. Letztes Wochenende erst begann die Flüchtlingsregistrierung, diese Woche begannen Impfungen für Kinder und die Ausgabe erster Hilfsgüter. Aber bei weitem nicht alle Flüchtlinge bekommen etwas ab. Die Zeit drängt: Nach mehreren Wochen Flucht drohen Seuchen, in EP Lac Vert wurden schon die ersten Cholerafälle registriert.

Die Flüchtlinge kümmern sich also um sich selbst. "Wir wurschteln uns durch", ist der Satz, der am häufigsten fällt. Die Straße nach Goma, 15 Kilometer weit durch grüne Bananenhaine und schwarze vulkanische Felsen, ist zum Boulevard geworden, geschäftig wie eine Großstadt, aber ohne Häuser drumherum: Auf Fahrrädern ziehen Flüchtlinge mit ihren Matratzen auf dem Rücken ein paar Kilometer weiter, andere schleppen Wasser oder Gemüse, viele laufen einfach nur herum, es wird ständig ausgekundschaftet, wer jetzt wo wohnt und wie wo die Situation ist. Auf offenen Lastwagen fahren manche Flüchtlinge nach Sake zurück, aber nicht um nach Hause zu gehen, sondern um ihre Sachen zu holen, die sie bei der Flucht zurückließen - wenn da noch etwas übrig ist.

Die Nkunda-Rebellen zogen sich am 6. September zugunsten von UN-Blauhelmen aus Sake zurück in die Berge, und die UN-Blauhelme holten die geflohene 15. Brigade der Regierungsarmee, die Sake eben erst an die Rebellen verloren hatte, zurück in die verlassene Stadt. Die 15. Brigade gilt als undiszipliniert, unbezahlt und unfähig. Die Soldaten bei EP Lac Vert streunen herum, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und bunten Latschen anstelle von Stiefeln, und einem hungrigen Blick, der in Verbindung mit einem Gewehr eine tödliche Waffe darstellt. Dazu donnern täglich Lastwagen voller frischer Regierungstruppen die Teerstraße hinunter Richtung Sake, Richtung Kriegsfront.

So verlassen nun auch die letzten Bewohner die Stadt, trotz Waffenstillstands und UN-Präsenz. "Man sieht jeden Tag die beiden Armeen, die sich angucken", erzählt Gedeon Kanane, ein Grundschullehrer, der am vergangenen Dienstag als einer der Letzten aus Sake in die Provinzhauptstadt Goma gekommen ist. "Die letzten Nächte waren wir immer ins Ortszentrum gegangen, um in der Nähe der UN-Soldaten zu sein."

Die Flüchtlinge von Mugunga sind nicht resigniert oder niedergeschlagen. Sie sind selbstbewusst und tatkräftig. Ständige Wachsamkeit und Beweglichkeit gehört zu ihrem Leben, und das Vertrauen auf die eigene Kraft. Das UNHCR kam letzte Woche nach EP Lac Vert und erklärte den Flüchtlingen, man werde ihnen ein neues, versorgtes Lager einrichten, in Bulenge sieben Kilometer entfernt. Aber die Flüchtlinge lehnten ab. Sie wollen an der Straße bleiben, wo sie mitbekommen, was los ist, und wo sie sich sofort in Bewegung setzen können, wenn die Lage sich verändert.

Nun aber liefert die UNO zwar Mehl und Erbsen nach Lac Vert, aber andere Hilfsgüter vorzugsweise nach Bulenge und die Menschen aus Lac Vert müssen dort hinlaufen, um sie abzuholen. Und so manche Marktfrau aus Goma verdient sich eine goldene Nase damit, nach Mugunga zu fahren und den Flüchtlingen Hilfsgüter abzukaufen, die diese gerade nicht brauchten. Als diese Woche die ersten Decken und Wasserbehälter ausgegeben wurden, gebracht aus Goma, landete das meiste davon gleich wieder zurück in Goma, transportiert auf Motorrädern zum Verkauf. Die Flüchtlinge brauchen vor allem Geld, dann können sie sich selbst etwas zu essen kaufen.

All das macht das Überleben nicht einfacher. Hier und dort wird das Elend in Mugunga schon sichtbar, im verständnislosen Blick spindeldürrer Kinder, in der Erschöpfung gebeugter Frauen, die die Straße entlangschleichen und nicht merken, dass ihnen die Brüste zum Kleid heraushängen und das Baby hinten den Rücken herunterrutscht. Aber in EP Lac Vert hält keiner die Hand auf, keiner bittet um etwas. Diese Leute sind das Fliehen gewohnt. Ihre Gegend ist seit 15 Jahren Kriegsgebiet. Sie wissen genau, wo man am besten seine Hütte aufstellt, wenn es wieder so weit ist.

Mit jeder Woche Krieg nimmt aber die Kraft der Flüchtlinge ab und ihre Aussichtslosigkeit zu. Keiner glaubt an eine rasche Rückkehr, solange sich die zwei Bürgerkriegsarmeen weiter am Rand von Sake gegenüberstehen. "Die Leute sind vor der Unsicherheit geflohen. Also werden sie zurückgehen, wenn es Sicherheit gibt", sagt Schuldirektor Mulwa. Es klingt so einfach. Aber nichts ist im Kongo schwerer.

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