Flüchtlinge in Italien: Jeden Tag 60 weniger
Die Grenzen im Schengenraum bleiben zu, Italien muss mit 27.000 Flüchtlingen aus Nordafrika selbst fertig werden. Tunesier werden bereits abgeschoben.
ROM taz | Im Flüchtlingslager von Lampedusa brannten die Matratzen, nachdem die ersten Abschiebeflüge von dort in Richtung Tunis gestartet waren. Währenddessen schimpfte in Luxemburg Roms Innenminister Roberto Maroni auf die EU, die Italien alleinlasse bei der Bewältigung des Flüchtlings-"Notstands". Italien, so viel ist klar, muss vorerst mit den 27.000 seit Januar aus Nordafrika eingetroffenen Flüchtlingen selbst fertig werden.
Montag früh hob in Lampedusa die erste Maschine nach Tunesien ab. An Bord waren 30 junge Tunesier, die - gemäß den am 5. April zwischen Italiens Innenminister Roberto Maroni und der tunesischen Regierung getroffenen Absprachen - in ihre Heimat abgeschoben wurden. Schon am Nachmittag startete ein weiterer Flug, wiederum mit 30 Abgeschobenen an Bord. So soll es in den nächsten Wochen weitergehen; Tag für Tag sollen je 60 Personen nach Tunesien zurückgebracht werden.
Doch kaum riefen die ersten Abgeschobenen per Handy aus Tunis bei ihren Schicksalsgefährten in Lampedusa an, da brachen in dem mit 1.000 Menschen - durchweg Tunesier - überfüllten Lager Unruhen aus. Einige der Insassen zündeten Matratzen an, und im entstehenden Chaos gelang es etwa 100 der Abschiebehäftlinge, über den Zaun zu steigen und zu entweichen. Sie fragten nach dem Weg zum Hafen, nach dem "Schiff nach Agrigent" - doch es gab für sie kein Entkommen von der Insel. Zugleich riefen sie, genauso wie die im Lager Gebliebenen, immer wieder "Liberté! Liberté!"
Am Montagabend dann begannen die Polizeibeamten, etwa 700 Tunesier zu einer im Hafen von Lampedusa liegenden, abfahrbereiten Fähre zu bringen. Sie sollen aufs Festland verlegt werden; nach den für Dienstag geplanten zwei Abschiebeflügen würden so nur noch 200 Abschiebehäftlinge auf Lampedusa selbst verbleiben.
Rund 95 Prozent der Menschen, die vor dem Bürgerkrieg aus Libyen fliehen, landen überhaupt nicht auf EU-Gebiet, sondern bleiben in Afrika. Nach der laufenden Zählung der humanitären Koordinationsstelle der UNO (OCHA) haben bis Sonntagabend 489.319 Menschen Libyen verlassen. Davon sind über 235.000 nach Tunesien ausgereist, knapp 196.000 nach Ägypten, knapp 33.000 nach Niger, knapp 14.000 nach Algerien, über 6.000 nach Tschad und 2.800 in den Sudan. In Camps an den Grenzen säßen rund 12.000 Menschen fest.
***
Vor allem solche Flüchtlinge, die über die Sahara Richtung Süden fliehen, sind meist völlig mittellos und auf internationale Hilfe angewiesen. Die UNO rechnet mit wöchentlich 2.000 Neuankömmlingen allein im bitterarmen Niger über die nächsten drei Monate. (d.j.)
Sie alle haben das Pech, dass sie erst nach dem 5. April in Italien eingetroffen sind, etwa 1.000 allein am letzten Wochenende. Für die Tunesier wird dieses Datum zur Markscheide: Wer später kam und noch kommen wird, gilt automatisch als "Wirtschaftsflüchtling", der sich des Verbrechens der "illegalen Einwanderung" schuldig gemacht hat - und bis zu seiner Abschiebung in Haft kommt.
Humanitärer Notstand
Die Tunesier dagegen, die vorher da waren, erhalten jetzt erst einmal eine auf sechs Monate befristete Aufenthaltserlaubnis "aus humanitären Gründen", eben weil in Nordafrika humanitärer Notstand herrsche. Sie können sich dann in Italien frei bewegen - nicht aber in Europa. Denn Italiens Innenminister Roberto Maroni scheiterte am Montag beim EU-Innenministergipfel in Luxemburg mit dem Ansinnen, für die nun legal in Italien befindlichen etwa 14.000 Tunesier die Öffnung der Grenzen im Schengenraum zugesagt zu bekommen.
Für seine europäischen Amtskollegen sind auch diese Tunesier trotz nun legaler Existenz in Italien schlicht "Wirtschaftsflüchtlinge", die umgehend ins Heimatland zurückgeschafft gehören. Grund genug für Minister Maroni, den EU-Austritt Italiens zur möglichen Option zu erklären: "Besser allein als in schlechter Gesellschaft", giftete er in die Mikrofone. Sein genauso wie Maroni zur fremdenfeindlichen Lega Nord gehörender Kabinettskollege Roberto Calderoli legte nach, Italien müsse jetzt mit eigenen Mitteln "eine totale Seeblockade" vor seinen Küsten errichten.
Erst einmal aber muss sich Italien um die "legalen" Tunesier kümmern - und um eine dritte Gruppe: um jene Menschen, die sich in den letzten Wochen von Libyen aus übers Meer nach Italien aufgemacht haben und deren Flüchtlingsstatus niemand infrage stellt. Denn diese Menschen stammen fast durchweg aus Bürgerkriegsländern oder "gescheiterten Staaten" wie Äthiopien, Somalia, Eritrea und Sudan; sie alle stellen in der Regel Asylanträge und erhalten dann humanitäres Bleiberecht. In den letzten Wochen trafen etwa 5.000 Menschen auf aus Libyen kommenden Booten in Italien ein.
Große Zeltstädte
Wohin mit ihnen, wohin auch mit den gut 14.000 Tunesiern, die in Italien bleiben dürfen? Italiens nördliche, von der Lega Nord im Verein mit Berlusconis Partei regierte Regionen hatten sich bisher bestenfalls zur Aufnahme "echter" Flüchtlinge bereit erklärt: Die Ausgabe von Aufenthaltsgenehmigungen an die bis zum 5. April eingetroffenen Tunesier war ja gerade darauf kalkuliert, sie schnell an Frankreich und andere europäische Länder loszuwerden.
Jetzt, da dieser Weg vorerst verstellt ist, bereitet die Regierung in Rom einen Plan vor, der allen Regionen nach ihrer Einwohnerzahl Flüchtlinge zuweist - und die Regionen auffordert, geeignete Strukturen zu ihrer Unterbringung zur Verfügung zu stellen. Da geht es um gerade einmal 19.000 Menschen. Doch bisher fiel den Behörden nicht viel mehr ein als die Errichtung großer Zeltstädte wie zum Beispiel im apulischen Manduria.
Dass es auch anders geht, zeigt die links regierte Toskana: Dort gilt das Prinzip, die Flüchtlinge in kleinen Gruppen - etwa 20 Personen - in den Städten und Dörfern der Region unterzubringen, in menschenwürdigen Behausungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity