Flüchtlinge aus Libyen: Auf der Flucht und vor dem Nichts
Hunderttausende sind bereits vor Gaddafis Gewalt geflohen. Jetzt kommt der Krieg dazu. Dramatisch ist die Lage vieler Migranten aus Afrika südlich der Sahara.
![](https://taz.de/picture/274585/14/libya_refugee_dapd.20110323-08.jpg)
BERLIN taz | Knapp 330.000 Menschen sind seit dem 22. Februar aus Libyen geflohen. Die internationalen Luftangriffe gegen Gaddafis Militär seit dem Wochenende ändern daran zunächst nichts. Im ostlibyschen Rebellengebiet bringen sich die Menschen weiterhin vor Gaddafis Angriffen in Sicherheit, und aus ganz Libyen fliehen die aus Afrika südlich der Sahara stammenden Zuwanderer.
Nach der Zählung des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UN (OCHA) sind seit dem 22. Februar rund 165.000 Menschen aus Libyen nach Tunesien geflohen, rund 140.000 nach Ägypten und jeweils rund 10.000 nach Algerien und Niger. Ägypter stellen das größte Flüchtlingskontingent, aber zahlreiche afrikanische und asiatische Länder sind vertreten.
Mit über 250 Flügen haben Hilfswerke wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) bislang 56.000 aus Drittländern stammende Libyen-Flüchtlinge in ihre Heimatländer repatriiert. Über die Hälfte davon stammt aus Bangladesch, der Rest vor allem aus Tschad, Mali, Ghana, Niger, Nigeria, Vietnam oder den Philippinen. Dazu kommen noch Ägypter im Westen Libyens, die über Tunesien ausreisten.
Mehrere tausend Menschen sitzen im Niemandsland zwischen den libyschen und den ägyptischen beziehungsweise tunesischen Grenzposten fest. So können rund 2.000 Tschader, die aus dem Rebellengebiet im Osten Libyens fliehen wollen, die Grenze zu Ägypten nicht überqueren: Die Rebellen halten sie für Gaddafi-Söldner, da Libyens und Tschads Regierungen eng zusammenarbeiten. An Libyens Westgrenze nach Tunesien haben Gaddafis Truppen ihre Präsenz verstärkt und halten Flüchtende fern; unweit der Grenze laufen Angriffe gegen Aufständische in den Bergen.
Täglich fliehen Tausende
Das UNHCR arbeitet derzeit nach eigenen Angaben auf der Grundlage, dass jeden Tag 1.500 bis 2.500 weitere Flüchtlinge Libyen verlassen. Dies würde Repatriierungs- und Hilfskosten von 1,6 bis 3,2 Millionen Dollar pro Tag bedeuten, heißt es im jüngsten UNHCR-Lagebericht - eine beträchtliche Summe, sollte die Krise andauern. Am 7. März hatte OCHA international um 160,3 Millionen Dollar für die Versorgung von bis zu 400.000 Libyen-Flüchtlingen sowie 600.000 weiteren Hilfsbedürftigen innerhalb Libyens gebeten. Dieser Appell ist derzeit zu rund zwei Dritteln finanziert.
Doch die Flüchtlingszahlen steigen schneller als von der UNO vorgesehen, weil der Krieg die Menschen weiter verunsichert. Allein am Sonntag überquerten laut UNHCR 3.000 Menschen die libysche Grenze nach Ägypten und 1.800 die nach Tunesien. Anders als früher sind jetzt die Mehrzahl der Ankömmlinge in Ägypten Libyer. Sie berichten, dass tausende weitere in umkämpften Städten ihre Heimat verloren hätten. "Sie sagen, dass sie Angst haben, nach 16 Uhr auf die Straße zu gehen; manche haben gesehen, wie ihre Häuser verbrannten", sagte ein UNHCR-Sprecher am Dienstag in Genf. Am Mittwoch soll ein UN-Hilfskonvoi aus Ägypten nach Bengasi starten.
Sie bekommen keine Lebensmittel
Eine UN-Befragung von Libyen-Flüchtlingen in Tunesien, deren Ergebnisse jetzt veröffentlicht wurden, brachte Erschreckendes aus dem Gaddafi-Gebiet zutage. 80 bis 90 Prozent der fliehenden Migranten hatten demzufolge in Libyen erlebt, dass ihnen Händler keine Lebensmittel mehr verkaufen. Die Lebensmittelpreise seien ohnehin explodiert, präzisiert das UN-Welternährungsprogramm (WFP): Brot plus 110 Prozent, Reis plus 88 Prozent, Speiseöl plus 58 Prozent. Ausländer bekämen keine medizinische Versorgung. Auf dem Weg von Tripolis zur tunesischen Grenze werde den Menschen an Straßensperren gewaltsam ihr gesamter Besitz abgenommen.
Immer mehr Flüchtlinge landen jetzt sogar im bitterarmen südlichen Nachbarland Niger, früher wichtigstes Transitland für Schwarzafrikaner auf dem Weg nach Norden. In der 4.000 Einwohner zählenden Wüstenstadt Dirkou strandeten laut IOM allein am Wochenende 4.900 afrikanische Libyen-Flüchtlinge; weitere 70 überfüllte Lastwagen seien aus Libyen unterwegs.
Ein für Europa besonders brisanter Fluchtpunkt ist die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa vor der tunesischen Ostküste. Hier sind dieses Jahr bereits über 15.000 Flüchtlinge gelandet, die meisten davon aus Tunesien unmittelbar nach dem dortigen Umsturz im Januar. Seit einigen Tagen nimmt die Zahl erneut rapide zu.
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