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Archiv-Artikel

Flüchtige Bekannte

Das eigentliche Leben ist immer woanders: Navid Kermani beschreibt Erschütterungen, die ein Todesfall bei einem Helden von heute auslösen

VON MARCO STAHLHUT

Am Anfang des Buches steht eine schockierende Nachricht: Eine Bekannte des Icherzählers ist gestorben, plötzlich und unerwartet, wie es in einer in Todesanzeigen gängigen Formel heißt. Der Tod bleibt mysteriös, Maike Anfang hatte keinen Unfall, sie war nicht krank und außerdem noch ziemlich jung, mit Anfang vierzig im gleichen Alter wie der Erzähler. Dariusch, der von dem Todesfall durch eine SMS, die titelgebende „Kurzmitteilung“, erfährt, ist von der Nachricht erschüttert, stärker als es das Verhältnis der beiden zueinander nahelegen würde. Er hatte Maike erst kurz vor ihrem Tod kennengelernt, sie einmal gesehen, bei einem Geschäftsessen mit anschließendem Kneipenbesuch. Wenn ihn die Nachricht von ihrem Tod dennoch aus der Bahn wirft, dann dürfte es dabei nicht nur um diese flüchtige Bekannte gehen, sondern auch und vielleicht vor allem um ihn selbst – und das ist ihm bewusst.

Dariusch ist ein selbständiger Eventmanager im Kulturbereich, er organisiert das Rahmenprogramm für Stadtfeste, für Firmenfeiern und Partys reicher Privatpersonen. Maike Anfang hat er kennengelernt, weil er die Abschiedsfeier für den Vorstandsvorsitzenden einer in Köln ansässigen Firma organisieren soll, in deren Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit sie arbeitete. Dariusch hat, wie er sagt, einen Ruf fürs Ungewöhnliche, Unerwartete. Er versucht bei seinen Festen einen Brückenschlag „zwischen Publikumstauglichkeit und Avantgarde“, wobei man sich seinen avantgardistischen Anspruch nicht zu hoch vorstellen darf, ihn selbst aber auch nicht als zu ungebildet. Der deutsch-jüdische Denker Walter Benjamin ist ihm als Name ebenso geläufig wie die amerikanische Essayistin Susan Sontag. Die Nachricht von Maike Anfangs Tod erreicht ihn in Cadaqués, einem Dorf an der spanischen Costa Brava. Ehemals ein Fischerort, von dem sich Künstler wie Dalí, Picasso und Miró inspirieren ließen, ist Cadaqués inzwischen zu einem Hort malender wie nicht-malender Selbstverwirklicher geworden. Darius, der einen Teil des Jahres dort lebt, nennt den Ort selbstironisch ein „Disneyland für Individualisten“.

Was der Leser hier angedeutet findet, ist sowohl Dariuschs Wunsch nach Sinngebung eines materiell erfolgreichen Lebens als auch das Ungenügen seiner bisherigen Versuche, diesen Wunsch zu befriedigen. Oder, mit seinen eigenen Worten über die Probleme der „meisten Menschen“: „beißende Einsamkeit, die weder zu beantwortende noch abzuwehrende Frage nach dem Wozu-der-ganze-Scheiß, der Eindruck, das eigentliche Leben sei anderswo“.

Bald nach dem Empfang der Nachricht über den Tod Maikes macht sich Dariusch auf den Weg nach Köln. Er hat sympathische Züge, unter anderem einen gewissen, wenn auch bösen Witz, aber eigentlich sympathisch ist dieser Dariusch nicht. Enge Freunde scheint er nicht zu haben, Männer nimmt er vor allem als sexuelle und sonstige Konkurrenten wahr. Einmal ist von einem Freund die Rede, der ihm sein Buchmanuskript geschickt hat. Erleichtert stellt Dariusch fest, dass es so gut nicht ist. Frauen interessieren ihn vor allem, wenn sie in die Kategorien fickbar oder fickwillig fallen, am besten natürlich in beide. Die Sekretärin seines Kölner Büros kommandiert er gewissermaßen zum Beischlaf wie zum Diktat, er beutet sie körperlich aus, ohne es überhaupt zu merken: „Sie hat immer Lust. Jedenfalls sagt sie nie nein.“

Navid Kermani, der Autor von „Kurzmitteilung“, hat in einem Interview zu seinem Erzählband „Du sollst“ vor ein paar Jahren gesagt, dass sich moralische Kategorien wie Güte und Sünde für ihn immer auf einen anderen Menschen bezögen. „Ich gehe einfach von der Situation aus, wo wir diesem Gegenüber am nächsten sind, im Bett.“ Die in diesem Sinne moralische Dimension von Sexualität gilt natürlich auch für den neuen Roman. Dariuschs Umgang mit Frauen ist Ausdruck seiner moralisch-metaphysischen Obdachlosigkeit, die er am Ende, in einer überraschenden Wende, durch den Sprung in den Glauben zu lösen versucht. Allerdings den einer obskuren amerikanischen Sekte. Vorher lernt er die Mutter der toten Maike kennen, verspricht bis zur Beerdigung zu bleiben und macht sich doch, frustriert, nachdem er bei einer attraktiven Frau nicht landen konnte, zurück auf den Weg nach Cadaqués.

Navid Kermani hat den fiktiven Erzähler von „Kurzmitteilung“ gewissermaßen genau an sich selbst vorbei modelliert. Oberflächlich betrachtet gibt es eine starke Ähnlichkeit zwischen beiden – beide haben einen familiären Hintergrund im Iran, beide machen irgendwie in Kultur. Von nahem betrachtet haben der Hallodri Dariusch und der ernsthafte Intellektuelle Navid Kermani jedoch nicht viel miteinander zu tun. Wer will, kann in diesem Verhältnis zwischen Autor und Figur eine Lektion über Oberflächlichkeit und Tiefe bei der Begegnung mit dem Anderen gespiegelt sehen, die eines der Themen ist, von denen der Roman handelt.

Kermani machte sich zunächst mit einer Doktorarbeit über ästhetische Rezeptionsweisen des Korans einen Namen. Später fiel er durch ein ungewöhnliches Buch über Neil Young sowie durch kluge Beiträge zu fundamentalistischem Terror und westlicher Islamkritik auf. Nach zwei Erzählbänden zeigt Kermani mit „Kurzmitteilung“ endgültig, dass er auch ein deutschsprachiger Schriftsteller von Rang ist. Er verbindet analytische Schärfe, die seine Feuilletons und Sachbücher auszeichnen, und literarisches Können, wie es sich in seinem fiktionalen Werk zeigt.

Navid Kermani: „Kurzmitteilung“. Ammann Verlag, Zürich 2007, 160 Seiten, 17,90 Euro