Flucht von der Krim: Noch mal von vorn
Wie viele Krimtataren floh auch Ruslan nach der Annexion der Krim in den Westen des Landes. Die Geschichte einer dreifachen Flucht.
Ruslans linke Hand ruht auf einer kleinen schwarzen Ledertasche. Diese liegt auf einem hellen Holztisch. Zu keiner Zeit lässt Ruslan die Tasche los. Ruslan, 42 Jahre alt, schlank, sitzt in einem Café im Zentrum der westukrainischen Großstadt Lwiw. Gestreiftes Hemd, braune Cordhose, die dunkelblonden Haare akkurat gescheitelt.
In der Tasche, erzählt Ruslan, sind seine wichtigsten Dokumente: sein Pass und die Bescheinigung, dass er eigentlich von der Krim kommt und nun in Lwiw lebt. „Meine Flüchtlingspapiere“, sagt Ruslan. Mit den Papieren kann er vielleicht wieder zurückkehren, irgendwann. Deshalb trägt er die Tasche immer mit sich.
Seit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg im Osten der Ukraine flohen fast 1,3 Millionen Menschen innerhalb der Ukraine. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen kamen 9.500 Menschen nach Lwiw – in die Großstadt ganz im Westen des Landes. Die meisten flohen aus den Gebieten Donezk und Luhansk.
Doch auch die Gruppe der Krimtataren, der muslimischen Minderheit von der Krim, deren Vorfahren schon auf der Halbinsel lebten, bevor Katharina die Große einst den Landstrich für Russland erobern ließ, ist stark vertreten. Rund 2.500 von ihnen kamen nach Lwiw, schätzt das tatarische Gemeindezentrum der Stadt. Ruslan ist einer von ihnen.
Weiter weg als nach Lwiw kann man innerhalb der Ukraine vor Krieg und Besetzung im Osten des Landes nicht fliehen. Aber auch nicht weiter weg von den Heimatorten der Geflüchteten. Wer hierherkommt, geht nicht so schnell wieder zurück.
Höchstens als Besucher
Ruslans Flucht begann im Frühjahr 2014, wenige Wochen nach der russischen Annexion der Krim. Er fuhr nach Kiew, kam über Freunde vorübergehend kostenlos in einer Wohnung unter und suchte nach einem passenden Platz, um ein Café zu eröffnen – so, wie er auch zuvor auf der Krim eines betrieben hatte. Doch in Kiew gab es bereits zu viele Lokale, die Speisen aus aller Welt anboten – auch tatarische. Erzählt Ruslan davon, hebt er hilflos die Hände. Nach einem Monat gab er auf und zog weiter nach Lwiw. Hier wurde er fündig.
Nun wohnt er 15 Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Nachdem er hier eine Wohnung gefunden hatte, holte er seine Frau und die vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, nach. Mit dem Zug und zwei Rucksäcken für jeden verließen sie die Krim. Mit einer Rückkehr rechnet er nicht – höchstens als Besucher. Und dennoch ruht seine Hand fest auf der Tasche. Seine Eltern sind auf der Krim geblieben. Um sie zu besuchen, braucht er die Papiere.
Unterstützung vom Staat habe er für seinen Neustart in Lwiw nicht bekommen, sagt er. Aber wenigstens habe er nicht gestört. Er wolle kein Opfer sein. „Wir müssen unser Leben selbst in die Hand nehmen.“ Ruslan sieht die Flucht auch als Chance auf ein neues Leben. „Die Menschen hier sind sehr interessiert an unserer tatarischen Kultur und unseren Traditionen“, sagt er. „Auch ich will offen sein.“ Er werde akzeptiert, weil er hart arbeite, keinen Alkohol trinke. So macht das Leben in der fremden Umgebung für ihn wieder Sinn: Weil er etwas leistet, geht es ihm besser.
Das Café nur ein paar Meter neben der quirligen Einkaufsstraße gehört ihm. Es bietet krimtatarische Spezialitäten an und ist das erste dieser Art in der Stadt. Einheimische und Touristen finden offenbar Gefallen an der tatarischen Küche. Der Laden läuft gut. Alle fünf Tische sind besetzt, alle paar Minuten kommen Kunden herein, kaufen etwas zum Mitnehmen.
Die dreifache Flucht
Während Ruslan seine Geschichte erzählt, flimmern auf einem Flatscreen hinter seinem Rücken Postkartenmotive von seiner Heimat in einer Endlosschleife: tatarische Dörfer, das Krimgebirge, Villen an der Schwarzmeerküste. Dreimal hat seine Familie in den letzten 70 Jahren ihre Heimat verlassen müssen, sagt Ruslan.
Nachdem die Rote Armee 1944 Hitlers Truppen auf der Krim nach schweren Kämpfen besiegt hatte, ordnete Stalin die Deportation der muslimischen Krimtataren an. Sie sollten angeblich mit den deutschen Besatzern kollaboriert haben, wähnte der Diktator. Auch Ruslans Großeltern mussten damals ihr Haus verlassen, sagt er. Stalin ließ die Tataren von der Krim in mittelasiatische Sowjetrepubliken bringen. Zurückkehren dürften sie auch nach seinem Tod nicht. Ruslans Familie landete damals in Tadschikistan.
Dort wurde Ruslan geboren, wuchs auf und ging zur Schule. „Die Krim kannte ich nur aus Erzählungen“, sagt er. Doch auch in Tadschikistan waren Tataren nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht mehr willkommen. Es gab Konflikte mit den Nachbarstaaten. Die ethnische Zugehörigkeit wurde auf einmal wichtig. Nichttadschiken seien nicht mehr gern gesehen gewesen, erinnert sich Ruslan. Er mach eine Bewegung mit der rechten Hand, als wolle er etwas vom Tisch fegen. Sie sollten verschwinden.
Nationalismus sei keine gute Sache, meint Ruslan. Sich selbst als etwas Besseres als andere zu betrachten halte die Menschen davon ab, einander zu verstehen. Auch in der Ukraine könne das passieren. Nationalismus sei ein Mittel der Mächtigen, um Menschen voneinander zu trennen und besser zu kontrollieren. Dabei seien die Unterschiede zwischen den Völkern doch eine gute Sache, sagt Ruslan. „Daran erkennt man die Vielfalt von Gottes Schöpfung.“
Machtlos und ausgeliefert
Seine Mitschüler aus Tadschikistan seien heute über die ganze Welt verstreut: Russland, Ukraine, Kanada, Deutschland, zählt er auf. Mit einigen stehe er noch im Kontakt über das Internet. Seine Familie habe sich nach dem Zerfall der Sowjetunion für die alte Heimat auf der Krim entschieden, so wie viele andere Krimtataren.
Die damals frisch unabhängig gewordene Ukraine hatte den früheren Bewohnern die Rückkehr ermöglicht. Die Großeltern bekamen ihr altes Haus zurück. „Wir haben gelebt und gearbeitet“, sagt Ruslan. Die Mutter als Verkäuferin in einem Kaufhaus, der Vater als Pilot. Ruslan mietete ein Café und verkaufte tatarische Spezialitäten an die überwiegend russischen Touristen. „Es lief ganz gut“, sagt er.
Und dann kamen die maskierten Männer in grünen Uniformen im Februar 2014. Und alles änderte sich. Die Verbindungen zum ukrainischen Festland wurden abgeriegelt. Es kamen keine Touristen mehr. Die angeblich lokalen Selbstverteidungskräfte, die alle wichtigen Punkte auf der Halbinsel besetzten, stellten sich als russische Soldaten heraus.
Selbst der Kreml hat das später zugegeben. Die bewaffneten Männer erinnerten Ruslan an seine Erlebnisse vor der Flucht aus Tadschikistan. „Nach mehr als 20 Jahren wiederholte sich die Situation“, sagt er und rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Es wühlt ihn noch immer auf. Er fühlte sich ausgeliefert und machtlos.
Unsicher war beides
Die Tataren hätten die Nachrichten im Frühjahr 2014 aufmerksam verfolgt. Beim Referendum über die Abspaltung der Krim von der Ukraine im März stimmten viele von ihnen gegen den Beitritt zu Russland oder beteiligten sich nicht. Dazu hatte der die Selbstverwaltung der krimtatarischen Minderheit aufgerufen. In der Nachbarschaft sei die Stimmung in jenen Tagen gekippt.
Menschen, die er seit Jahren kannte, seien auf einmal misstrauisch gewesen, grüßten nicht mehr. Ruslan spricht von russischer Propaganda, Manipulation durch das staatliche Fernsehen. Das habe Feindbilder aufgebaut: Die neue Regierung in Kiew als Putschisten, Russland als Retter der Krim. Wer offen widersprach, riskierte, ins Gefängnis zu kommen.
Die Tataren saßen zwischen den Stühlen, erinnert sich Ruslan. Bald begann er, sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie zu machen. Er hatte die Wahl zwischen einer Heimat unter Herrschaft des Kreml und einem Leben mit Flüchtlingspapieren in einer fremden Stadt. Unsicher war beides, eine Chance versprach nur das Letztere. Dann entschied er sich zu gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe