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Flucht aus SyrienPlötzlich hatten alle Maschinenpistolen

Murhaf Fanous wurde von der syrischen Armee angeschossen und floh nach Schweden. Dann holte er seine Familie nach. Ruhig schlafen kann er nicht.

Murhaf Fanous' Familie ist jetzt in Sicherheit. Doch viele ihrer Verwandten und Freunde sind noch in Syrien. Bild: Rebecka Uhlin

HOLMSUND taz | Die Sonne scheint durchs Wohnzimmerfenster. Die zweijährige Marsil ist vom Mittagsschlaf aufgewacht und hüpft aufs Sofa zu Papa. Murhaf Fanous, ein kräftiger Mann mit ergrauendem Bart und blauen Augen, stellt das Glas mit dem starken, süßen Tee ab und küsst seine Tochter auf den Scheitel. Ein friedliches Bild an einem friedlichen Nachmittag im nördlichen Schweden.

Seit fast einem Jahr lebt Familie Fanous in Holmsund, wo jeder jeden kennt und die Omis auf dem Marktplatz den Trinkern vor dem Supermarkt beim Trinken zuschauen. „Ein guter Ort“, sagt Murhaf Fanous. „Es ist ruhig hier und die Menschen haben ein gutes Herz.“

Der Fernseher im Wohnzimmer läuft tonlos. Al-Dschasira zeigt Bilder von Panzern. „Wenn ich aufstehe, schalte ich ihn als Erstes ein“, sagt Fanous. Erst wenn er ins Bett gehe, schalte er ihn aus. Nachts kommen die Albträume: „Ich träume immer von Syrien, ich sehe mich dort im Krieg“, erzählt Murhaf Fanous. Er hat sich Schlafmittel verschreiben lassen.

„Erste Protestdemo in Syrien“ meldet dpa am 15. März 2011

Bis 2011 lebten Murhaf Fanous und seine Frau Tagred Garabli ein unaufgeregtes Leben in der syrischen Hafenstadt Latakia. Er hatte als Musiker gut verdient und eine Poolbillardhalle eröffnet, Tagred arbeitete als Kindergärtnerin. Guevara, ihre älteste Tochter, war sieben Jahre alt, die zweite Tochter Marsil gerade geboren, als der arabische Frühling über sie hereinbrach.

Latakia, die Heimatprovinz der Familie des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, wurde ein Zentrum des Widerstands. „Im angrenzenden Viertel lebten sehr viele arme Menschen. Zuerst ging es um Freiheit. Doch plötzlich hatten sie alle Maschinenpistolen und teure Handys. Sie kontrollierten unser Viertel“, berichtet Fanous.

„Ach was, eigentlich sind das Fanatiker“

Ziel: Europa

Die Flucht: Mehr als 2 Miliionen Syrer sind auf der Flucht. Nur ein Bruchteil gelangt nach Europa. In Schweden haben aktuell 8.000 syrische Flüchtlinge Asyl beantragt. Deutschland nimmt ein Kontingent von 5.000 Syrern auf.

Der Weg: Im Jahr 2012 kamen die meisten Flüchtlinge über die Türkei nach Greichenland in die EU. Mit EU-Mitteln wurde die Überwachung verstärkt und ein 12,5 Kilometer langer Zaun errichtet. Die Menschen weichen nun auf andere Routen aus. Zu Fuß über Bulgarien: Die Zahl der illegalen Grenzübertritte an der türkisch-bulgarischen Grenze hat sich seit Jahresbeginn stark erhöht. Mit dem Boot über die Ägäis: In den ersten drei Monaten des Jahres 2013 wurde hier 1.618 illegale Grenzüberschritte verzeichnet. Mit dem Flugzeug von Istanbul: Die Anzahl der Personen, die wegen gefälschter Personaldokumente festgehalten wurden, hat sich seit dem Jahr 2011 verdoppelt. (Quelle: Frontex, Migrationsverket, UNHCR)

Die Bewaffneten suchten nach Anhängern Assads. Er halte ihn für einen Diktator und habe nie mit ihm sympathisiert, sagt Fanous, und das sagte er auch den … Er sucht das Wort. Tagred setzt sich zu ihrem Mann auf’s Sofa.

„Revolutionären.“

„Ja, genau.“ Er rollt das Wort im Mund. „Ach was, eigentlich sind das Fanatiker“, meint er. „Wenn die an die Macht kommen, haben wir wieder eine Diktatur. Wir sind …, wie sagt man?“

„Zwischen den Fronten.“

„Genau.“

Die Revolutionäre gaben ihm ein Gewehr, und nun gehörte Fanous zum Widerstand. „Meine Frau fragte mich, ob ich verrückt geworden sei. Was willst du mit dem Gewehr, schrie sie mich an. Mach dir keine Sorgen, sagte ich, wenn die Armee kommt, feuere ich das ganze Magazin in die Luft und habe dann für den Rest des Monats meine Ruhe.“ Pro Person waren 30 Schuss Munition ausgegeben.

„Syrische Truppen rücken in Latakia ein“, meldet dpa am 13. August 2011

Fanous erzählt, wie er morgens durch die Stadt schlich. Er wollte seine Frau anrufen, die mit Guevara und dem Baby zu Hause war, aber er hatte keinen Empfang. „Und dann standen plötzlich syrische Soldaten vor mir.“ Er floh. Sie schossen. Eine Kugel streifte den Hals, eine zweite traf den Po und trat durch die Leiste wieder aus. „Hier“, er schiebt den Hosenbund unter das vernarbte Gewebe.

Ein Nachbar versteckte ihn und verband die Wunden. Dieser wurde später beschuldigt, ein Anhänger Assads zu sein. Fanous hackt auf seinem Laptop rum. „Das ist mein Nachbar“, sagt er. Ein Youtube Video zeigt einen Mann auf einer Liege, sein linkes Auge ist zugeschwollen, Arme und Beine sind mit Handschellen gefesselt. Er spricht langsam. „Ich werde die Regierung nicht mehr unterstützen“, übersetzt Fanous und scrollt rasch zum Ende des Videos: ein Kopf in einem Pappkarton. „Sie haben seinen Kopf an seine Mutter geschickt und in die Nase einen Zettel gesteckt mit den Namen derer, die sie als nächstes töten“, berichtet Tagred.

„Was sind das für Menschen.“

Sie schüttelt sich. „Was sind das für Menschen. Sie sagen, sie sind Muslime. Aber wir sind auch Muslime. Nirgendwo im Koran steht, dass man Menschen den Kopf abschneiden soll.“

Vom Tod des Nachbarn hat sie ihrem Mann am Telefon erzählt. Murhaf war schon geflüchtet. Die türkische Grenze ist nur 60 Kilometer von Latakia entfernt. Murhaf schlug sich zu Fuß durch und erreichte am 20. August ein Flüchtlingslager. Er blieb dort vier Monate, aber die Familie durfte nicht nachkommen.

„Wir hatten als Palästinenser keine syrischen Papiere“, erklärt er. Also weiter. Er bezahlte einen Schlepper, reiste nach Griechenland und von dort aus nach Deutschland. Frankfurt erreichte er am 1. Januar 2012 und blieb ganze drei Tage. „Ich würde gern in Deutschland arbeiten“, meint er. „Deutschland ist ein starkes Land, das spürst du, wenn du durch die Straßen gehst. Aber wieso tut Deutschland nichts?“ Er erfuhr, dass es extrem schwierig werde, die Familie nach Deutschland nachzuholen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt, ein Familiennachzug sei unter folgenden Voraussetzungen möglich:

– Familienangehöriger ist im Besitz eines Aufenthaltstitels,

– verfügt über ausreichend Wohnraum,

– der Lebensunterhalt ist gesichert.

Fanous flog weiter nach Schweden. Sofort nach seiner Ankunft ging er zur schwedischen Migrationsbehörde und beantragte eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und die Erlaubnis, seine Familie nachkommen zu lassen. Doch man sagte ihm, er müsse sich gedulden, man warte die Entwicklung in Syrien ab.

Reuters meldet am 5. Juni 2012: „Heftige Kämpfe in syrischer Küstenprovinz Latakia

Seine Frau schlief mit den Kindern in der Küche auf dem Boden. Im Bett war es zu gefährlich, denn die Kugeln durchschlagen auch Wände. Sie trauten sich nicht, aus dem Haus zu gehen. „Ein Nachbar wurde erschossen, als er auf seinem Balkon stand, berichtet Tagred. Wenn er mit ihr telefonierte, hörte Murhaf im Hintergrund die Salven.

Im Hungerstreik

Manchmal fiel der Strom tagelang aus. Tagred schickte Fotos per Skype: Guevara auf einem Sofa sitzend. Sie lächelt, nun mit Zahnlücken. „Ich habe vor diesem Foto gesessen und geheult“, erzählt Murhaf. Er saß 5.000 Kilometer nördlich. Er trat in den Hungerstreik. Die Medien wurden aufmerksam.

„Murhaf im Hungerstreik für seine Familie“ titelt der „Västerbottens Kuriren“ am 14. Juni 2012.

Am 8. August 2012 erhält er die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Nun durfte auch die Familie ausreisen. Da die schwedische Botschaft in Damaskus geschlossen ist, reiste Tagred nach Beirut und sprach dort in der schwedischen Vertretung vor. Nach drei Anläufen erhielt sie Pass und Visum und flog mit den Kindern von Beirut über Katar nach Schweden.

Am 24. Oktober 2012 landen sie in Stockholm. Im Gepäck hat sie auch Murhafs Bassgitarre. Er spiele manchmal darauf, aber nur für sich, erzählt er. Er würde gern wieder eine Band gründen, doch noch hat er in Västerbotten keine Musikerfreunde gefunden.

Er springt auf und stellt einen Blumentopf auf den Tisch. „Hier, das mache ich jetzt. Ich züchte Blumen.“ Sie besuchen auch Schwedischkurse und Murhaf schaut sich nach einem Job um. Die Möbel hat er auf Kredit gekauft. Er wirft sich wieder auf das Sofa. „Ich lebe hier, aber mein Kopf ist in Syrien.“ Die Eltern leben noch dort und die Brüder und Schwestern. Sie haben alle kleine Kinder. Tagred erklärt, dass ihre Familien in Syrien bleiben. „Was sollen sie sonst machen, wir können hier ja auch nichts für sie tun.“

9.000 Euro pro Person

Die schwedische Botschaft in Damaskus schreibt auf ihrer Webseite: „Die Entscheidung der schwedischen Migrationsbehörde wurde oft falsch interpretiert, dahingehend, dass Schweden nun offen sei für alle Syrer. Das ist nicht der Fall!“ Asyl gibt es nur für jene, die es aus eigener Kraft nach Schweden schaffen. Doch die Reise ist teuer – 9.000 Euro wollen die Schlepper pro Person –, und sie ist gefährlich.

„Kampf gegen Waldbrände in Griechenland“ meldet dpa am 6. August 2013

Auf seiner Facebook-Seite hat Murhaf ein Foto gepostet und bittet um Hinweise. „Das ist die Familie meines Freundes“, sagt er. Es könnten auch die Fanous’ sein. Ein Mann mit einem Baby im Arm, neben ihm seine Frau und zwischen ihnen ein Kind mit blauem T-Shirt und dünnen Armen. „Sie sind bis nach Griechenland gekommen, dort verirrten sie sich“, sagt Murhaf. „Mein Freund wollte Hilfe holen, doch als er mit der Polizei zurückkam, brannte der Wald. Seitdem sucht er sie.

An diesem Tag haben sie erfahren, dass man die Überreste der Frau und der Kinder gefunden hat. Ein anderer Freund ertrank am Tag zuvor auf der Überfahrt durchs Mittelmeer. Vor drei Tagen wurde Murhafs Cousin in Syrien erschossen. „Er war weder Assad-Anhänger noch Revolutionär, er war erst 17 Jahre alt, ruft Murhaf.

Wie man das erträgt? Tagred schaut unbewegt auf. „Jeden Tag stirbt jemand, den du kennst. Manchmal fühle ich gar nichts mehr.“ Wollen Sie irgendwann wieder nach Syrien zurückkehren? Murhaf nickt. „Ich auf jeden Fall. Ich habe 37 Jahre dort gewohnt. Aber wenn du meine Frau fragst …“

Er blickt zu Tagred. Die streicht sich über den Bauch und lächelt. Im Januar wird ihr drittes Kind geboren. Guevara geht in Holmsund zur Schule, Marsil in den Kindergarten. „Es ist schön hier in Schweden“, sagt sie, „so friedlich.“

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