Florence Gaub im Interview: Szenarien einer böseren Welt

Die Brüsseler Militärexpertin Florence Gaub erklärt in taz FUTURZWEI den Ukraine-Krieg.

»Selenskyj weiß genau, wie Geschichtenerzählen funktioniert«: Militärexpertin Florence Gaub in Berlin Foto: Debora Mittelstaedt

taz FUTURZWEI: Liebe Frau Gaub, ein Krieg ist eine Geschichte, die erzählt wird, sagen Sie. Was ist damit gemeint?

Florence Gaub: Eine Geschichte auf zweierlei Art: erstens strukturell. Eine Geschichte hat einen Spannungsbogen mit verschiedenen dramatischen Momenten, und sie hat immer ein Narrativ, also einen Sinn, der sich durch sie hindurchzieht. Das hat der Krieg auch. Und zweitens emotional: eine Geschichte lebt davon und der Krieg auch, denn es geht bei ihm um etwas Existenzielles, er bringt uns Menschen dazu, etwas zu tun, was wir unter normalen Umständen nicht machen. Das kann der Tod sein, aber auch etwas Größeres, das Überleben der Nation, also der Identität. In den einfachsten Geschichten gibt es immer den Bösen und den Guten. Je einfacher man Gut und Böse unterscheiden kann, desto stärker packt einen die Geschichte. In der aktuellen Geschichte ist die Unterscheidung für viele klar: Die Ukrainer sind die Guten, die Russen sind die Bösen.

Die Frau:

Politikwissenschaftlerin und Militärexpertin, Zukunftsberaterin (Foresight Advisor) beim Europäischen Rat in Brüssel, Gründerin der Plattform Futurate Institute, Hauptmann der Reserve in der französischen Armee (2012-15). Geboren 1977 in München, lebt in Brüssel.

Das Werk (u.a.):

Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin über die libanesische Armee, Spezialgebiet: Konfliktstrukturen und die geopolitische Bedeutung des arabischen Raums.

Ko-Autorin von The Cauldron: NATO’s Campaign in Libya (2018) und Autorin von Guardians of the Arab State: Why Militaries Intervene in Politics, from Iraq to Mauritania (2017) sowie des Reports Global Trends to 2030: Challenges and Choices for Europe (2019).

Ihr Aufsatz Oase des Friedens aus Internationale Politik (Jan/Feb 2021) wurde von der grünen Politikerin Annalena Baerbock für deren Buch Jetzt. Wie wir unser Land erneuern plagiiert.

Sie haben gesagt, dass der Westen in dieser Geschichte ein Selbstgespräch führe.

Genau. Es heißt ja zum Teil in der Presse: Die Ukraine und Europa dominieren das Narrativ und haben den Narrativ-Wettbewerb gewonnen.

Nein?

Nein, den hätten wir gewonnen, wenn Russland plötzlich unsere Sichtweise teilen würde. Aber das tun sie ja nicht. Und wenn Sie sich das Abstimmungsverfahren in der Generalversammlung der UNO anschauen, dann haben wir auch nicht den ganzen Rest der Welt überzeugt. Wir haben uns allen voran selbst überzeugt. Aber bislang ist das ein Selbstgespräch. Der ukrainische Präsident Selenskyj müsste in den russischen Medienmarkt reinkommen, damit sich das ändert. Da die meisten Russen sich ihre Informationen nicht auf Twitter holen, sondern aus dem Staatsfernsehen, bekommen sie von seiner aktuellen Kampagne nicht so viel mit. Deshalb hat er auch manche Videos neuerdings zum Teil russischsprachig aufgenommen. Auch für die ukrainische Bevölkerung, die russisch spricht. Aber wir gehen davon aus, dass es halt auch dem Zweck dient, die russische Bevölkerung zu erreichen.

Wie erklären Sie sich, dass die Rolle der Geschichten und der Bilder kaum zur Geltung kommt in der Art und Weise, wie über diesen Krieg diskutiert wird?

Weil gerade in Deutschland der emotionale Zug schon abgefahren ist. Fast ganz Deutschland sitzt schon in diesem Emotionszug, und damit hat man nicht mehr den Abstand, um die Sache objektiv zu betrachten. Die Bilder werden eins zu eins genommen, das Storytelling wird eins zu eins genommen.

Über Jahrzehnte war stets Dekonstruktion angesagt. Und jetzt ist alles wahr, was man zu sehen glaubt?

Nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen EU redet man seit Jahren über Desinformationen, wie man sie erkennt und darüber, dass man alles hinterfragen muss. Und dann ist man doch voll in der Geschichte drin. Selenskyj weiß genau, wie Geschichtenerzählen funktioniert und macht das extrem gut. Nicht nur, weil er ein Schauspieler ist, er ist auch einfach ein guter Redner, und seine Reden sind immer ganz spezifisch auf das Publikum zugeschnitten, mit dem er gerade spricht.

Woran denken Sie?

Ich denke etwa an seinen Auftritt bei der Videoübertragung im britischen House of Commons, wo er natürlich Churchill zitiert hat. Hier im Europäischen Rat hat er sogar gesagt: Ich weiß nicht, ob Sie mich noch mal lebend sehen. Da ist niemand davor gefeit, emotional mitgenommen zu werden.

Die Geschichte, die man durchsetzt, über sich und über die anderen, ist das handlungswirksamste Mittel, was es überhaupt gibt.

Ja, genau. Und diese Geschichte wird in Deutschland dominiert von Selenskyj und dem ukrainischen Narrativ einerseits. Auf der anderen Seite gibt es natürlich noch andere Stimmen, auch so wie Ihre Versuche, Herr Welzer, eine Geschichte zu erzählen. Aber Sie tun sich natürlich schwer, denn Sie kommen differenziert daher, und Sie haben keine offensichtlichen Guten und Bösen.

Der offene Brief gegen Waffenlieferungen und Habermas' Intervention, das waren Störungen der Geschichte, die sich alle erzählen.

Ganz genau. Das ist die störende Geschichte. In der Reaktion auf Sie, Herr Welzer, zu sagen: Der Nachfolger des Tätervolks erklärt dem Repräsentanten des Opfervolks, was Krieg ist, das nimmt die Differenziertheit wieder komplett raus und stellt dadurch die andere Geschichte, Gut gegen Böse, wieder her.

Gut gegen Böse – was ist das Gefährliche an diesem Narrativ?

Ein Indiz und Nährboden für Konflikt ist Othering, also sich abzugrenzen, indem man sagt: Die anderen sind anders als die Mehrheit. Das allein ist noch nicht gefährlich. Aber es ist die Vorstufe für: Das eine ist gut, das andere ist böse. Und in dem Moment, in dem man sagt, das ist böse, spricht man der Gegenseite ab, ein komplexer Mensch zu sein, was ja die Realität des Menschseins ist: schlechte, aber auch gute Seiten zu haben. Wenn man aber sagt, anders sein bedeutet böse sein, dann kreiert das die emotionale Distanz, die die Ausübung von Gewalt erlaubt. Wenn also Gut-Böse-Denken auftaucht, dann ist das ein Anzeichen für Gefahr.

Jetzt kann man aber wirklich schlecht sagen: Leute, dieser Putin hat sicher auch seine guten Seiten.

Sie meinen im Sinne von: Hitler war auch nett zu seinem Hund? Worum es mir geht, ist, dass wir uns total schwertun, die Komplexität vieler Sachverhalte zu akzeptieren, gerade wenn es um Gewalt und Krieg geht. Wir wollen nicht, dass die anderen komplex sind. Es ist einfacher zu sagen, Putin ist verrückt oder er ist böse, als zu sagen: Wahrscheinlich hat er irgendein Argument, das ich halt nicht nachvollziehen kann.

Was ist denn die Geschichte aus russischer Sicht?

Es war uns von Anfang an nicht klar, was Russland jetzt eigentlich will. Will es plötzlich die ganze Ukraine oder will es nur den Donbass und die Krim? Oder will es einen Dritten Weltkrieg anfangen? Nicht verstehen, was die Gegenseite erzählt als Geschichte, gehört zum Teil des Problems. Uns ist völlig klar, welche Geschichte die Ukraine erzählen will und welche wir selber erzählen, aber wir verstehen Russlands Geschichte nicht.

Ist die russische Geschichte nicht: Befreiung der Ukraine von Nazis?

Ja, aber das ist ja nur ein Teil einer größeren Geschichte, in der Russland sich seit Jahren im Kampf um sein geopolitisches Überleben sieht.

Lassen Sie uns konkret werden: Wenn ich ein anderes Land erobern will und da eine Stadt mit Gewalt kaputtmache, was habe ich dann gewonnen?

Die Antwort ist: Das hängt davon ab. Manchmal macht man auch unabsichtlich alles kaputt, ich nehme jetzt mal das Beispiel von Grosny. Russland ist nach Grosny rein, weil die tschetschenischen Kämpfer die Stadt nicht verbarrikadiert hatten. Die Tschetschenen haben damit quasi gesagt: Kommt rein. Und dann waren die russischen Soldaten in Grosny und sind dort zerfleischt worden von den Tschetschenen. Denn in einem urbanen Setting brauchen sie für jeden Verteidiger fünf Angreifer, und die Russen waren überhaupt nicht auf den urbanen Kampf eingestellt. Sie wollten nicht alles platt machen, sondern sind in eine Falle gegangen. Dann gibt es das Szenario Dresden, das von den Alliierten bombardiert wurde. Eine Mischung aus Strafe und Hoffnung, dass sich dadurch das deutsche Volk gegen die Nazis auflehnt. Das ist ein Beispiel für die sogenannte Bestrafungsstrategie, die sich nicht als effizient erweist. Mir fällt kein Fall ein, in dem man die Zivilbevölkerung terrorisiert und damit erreicht, dass sie sich gegen das Regime wendet. Das hat in Vietnam auch nicht funktioniert.

Was habe ich also davon?

Sie haben nichts davon, aber sie könnten trotzdem versucht sein, diese Waffe einzusetzen, wenn sie sonst kein Mittel mehr haben. Als weitere Erklärung gibt es die Infrastruktur: man muss Sachen kaputtmachen, damit die anderen das nicht mehr verwenden können. Aber dafür muss man eigentlich nicht eine ganze Stadt kaputtmachen. Die Frage ist auch: Wollen Sie nach dem Krieg selber wieder aufbauen oder nicht? Die NATO hat in Libyen extrem darauf geachtet, nicht zu viel kaputt zu machen, weil man dachte: Nach dem Krieg will man ja, dass der Aufbau schnell vorangeht, also zerstört man so wenig wie möglich. Ich gebe ein Beispiel: Da gab es eine ganz bestimmte Brücke, die dazu diente, feindliche Truppen hin und her zu bewegen. Und dann hieß es aber aus dem NATO-Hauptquartier: Nein, die Brücke zerstören wir nicht, weil wir sie nach dem Krieg brauchen.

Was ist der ideale Kriegsverlauf aus Angreifersicht?

Der Idealzustand in einem Krieg ist natürlich, dass man seine Truppen und seine ganze Infrastruktur so organisiert, dass man einfach die Gegenseite ausschaltet und das besetzt, was man besetzen will. Das haben die Alliierten im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland gemacht. Aber dafür braucht man unglaublichen Koordinationsaufwand, logistischen Aufwand, Personalaufwand und so weiter. Und weil man eine Gegenseite hat, die halt versucht, genau diese Ziele zu unterminieren, ist so ein Krieg ein extrem komplexes und auch unübersichtliches Unterfangen.

Gibt es bei der Zerstörung von Mariupol eine tiefere Geschichte? Interessant ist, dass Russland der Ukraine einen Waffenstillstand in Mariupol angeboten hat, weil Russland eben nicht weiterhin in Mariupol feststecken wollte. Die Ukrainer haben die Russen absichtlich in Mariupol festgehalten, damit sie eben nicht irgendwo anders hinkommen. Das heißt, die Ukraine hat aus strategischen Zielen heraus in Kauf genommen, dass Mariupol total zerstört werden würde und dass es viele zivile Opfer geben würde. Das stört mich manchmal bei der Berichterstattung, dass man unseren Zuschauern Bilder zeigt, ohne zu erklären, was die Hintergründe sind.

Lassen Sie uns über das Vorhandensein unterschiedlicher Gewaltkulturen sprechen, und zwar sowohl in der Gesellschaft als auch dann in den jeweiligen Armeen. Was muss man da verstehen?

Ein gewisses Level an Gewalt – ich will es nicht trivialisieren, aber man muss das verstehen – ist einfach anscheinend normal. Zumindest haben wir auch in den Wohlstandsgesellschaften Europas eine ziemlich stabile Mordrate seit Jahrzehnten. Dafür haben wir keine wissenschaftliche Erklärung. Das zweite ist aber natürlich, dass ein ganz großer Teil des Bezuges zu Gewalt kulturell konstruiert ist.

Konkret?

»Heute ist die EU die Oase der Gewaltfreiheit in der Welt. Man hat nach 1945 entschieden: Wir wollen das nicht mehr. Das ist in anderen Gesellschaften anders. Da ist Gewalt einfach eine Methode, um bestimmte Sachen aufzulösen.«

Florence Gaub

Die europäischen Länder waren noch vor 100 oder 80 Jahren mit die gewalttätigsten der Welt. Heute ist die EU die Oase der Gewaltfreiheit auf der Welt. Man hat nach 1945 entschieden: Wir wollen das nicht mehr. Und hat dann alles unternommen, um Schritt für Schritt die Gewalt aus allen möglichen Bereichen des Lebens zu entfernen. Das ist in anderen Gesellschaften anders. Da ist Gewalt einfach eine Methode, um bestimmte Sachen aufzulösen oder anzugehen.

Sie hatten auch einen Shitstorm abbekommen, als Sie bei Markus Lanz im Frühjahr gesagt haben, dass Russen zwar europäisch aussähen, aber »keine Europäer im kulturellen Sinne« seien und »einen anderen Bezug zu Gewalt und zum Tod haben«.

Die Frage, die mir gestellt wurde, lautete: Wird die russische Bevölkerung sich nicht auflehnen gegen Putin, wenn immer mehr tote junge Soldaten aus der Ukraine zurückkommen? Und da habe ich gesagt: So funktioniert das schon mal grundsätzlich nicht. Der Krieg in Vietnam hat über zehn Jahre gedauert, bis die amerikanische Bevölkerung angefangen hat, sich dagegen zu wehren. Und noch weniger funktioniert es, wenn in einer Gesellschaft Gewalt ein Stück weit normal ist. Und in Russland gibt es einen anderen Bezug zu Gewalt. Seit 2017 ist häusliche Gewalt wieder rechtens, 8.000 Frauen sterben pro Jahr daran. Es gibt Militärdienst. Und Russland ist seit 2014 regelmäßig im Krieg. In den EU-Ländern gibt es dagegen einen extrem distanzierten Bezug zu Gewalt. Wir haben keinen Militärdienst, Eltern dürfen ihre Kinder nicht mehr schlagen, Lehrer dürfen Kinder nicht schlagen. Vergewaltigung in der Ehe ist eine Straftat.

Was wir alles als zivilisatorischen Fortschritt begrüßen.

Genau. Wir haben eine gewaltfreie Zone geschaffen. Aber wir haben übersehen, dass wir da in diesem Ausmaß die einzigen sind auf der Welt, und dass der Bezug zu Gewalt natürlich in Russland anders ist und in Amerika auch. Die Zustimmungsraten zu Putin gehen jedes Mal hoch, wenn er irgendwo militärisch agiert. Bei uns gewinnt ein Bundeskanzler eine Wahl, wenn er sich gegen einen Krieg ausspricht. Ich wollte aber nicht sagen, dass wir die besseren Menschen sind.

Sondern?

Wenn wir nicht verstehen, dass wir die Ausnahme sind und andere einen anderen Bezug haben zu Gewalt, dann machen wir uns verletzlich.

Heikle Frage: Müssen wir wieder gewalttätiger werden können?

Nein, auf keinen Fall. Das Problem ist, dass wir speziell in Deutschland die Idee hatten: Wir denken einfach gar nicht mehr über Gewalt nach und dann passiert sie auch nicht. Als ich 2007 an der Uni Potsdam in dem Masterstudiengang Military Studies unterrichtete, gab es Demos dagegen. Weil man gesagt hat: ihr seid Kriegstreiber. Dabei ging es einfach darum, das Phänomen Krieg zu untersuchen. Die Frage ist für mich: Wie können wir wehrhaft sein, ohne gewalttätig zu sein? Ich glaube, die Idee der Abschreckung, dass man sich verteidigen kann, das müssen wir zurückholen. So wie Frauen ja auch Selbstverteidigungskurse machen.

Kann man Selbstverteidigung kulturell so einbauen, dass es nicht als moralischer Abstieg empfunden wird, sondern als emanzipatorische Angleichung an die Realität?

»Wir müssen uns Szenarien einer böseren Welt überlegen.«

Florence Gaub

Der erste Schritt ist, sich überhaupt wieder vorstellen zu können, dass es Krieg geben kann. Als die USA explizit gesagt haben, dass Russland angreift, haben viele europäische Staaten immer noch gesagt: Nein, nein, die Amerikaner reagieren über. Viele europäische Armeen sind auch gar nicht eingestellt auf einen konventionellen Krieg. Das ist nicht schön, aber wir müssen uns auch Szenarien einer böseren Welt überlegen und wie wir uns auf diese Welt vorbereiten.

Wie geht das?

Der US-General John Allen, Präsident der Denkfabrik Brookings Institution, war der Kommandeur der amerikanischen Truppen in Afghanistan und davor im Irak. Der hat mir letzten Sommer gesagt: Wenn Russland euch Europäer angreift, seid ihr von eurer Aufstellung her nicht bereit. Ich fragte: Was können wir tun? Er sagte: Es reicht schon, wenn ihr so investiert und so trainiert, dass Russland glaubhaft davon ausgehen kann, dass ihr bereit seid, wenn sie euch angreifen. Das waren wir halt bisher nicht. Und das ist eigentlich alles, was wir tun müssen. Wir müssen nicht zurückgehen zu einer gewalttätigen Gesellschaft. Aber wir müssen verstehen, dass Krieg tatsächlich passieren kann, und zwar vor allem, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.

Wirklich: Si vis pacem, para bellum? Ich glaube, das Schöne an Europa ist ja, dass wir uns komplett neu erfunden haben. Wir können auch jetzt wieder etwas komplett Neues erfinden. Wie kann man wehrhaft sein, ohne plötzlich wieder zu Männlichkeitsriten des 19. Jahrhunderts zurückzukehren? Diese wahnsinnig schmerzhafte Debatte, die gerade in Deutschland stattfindet, ist auch Teil dieses Prozesses, dass wir das jetzt neu definieren.

Gibt es eigentlich Möglichkeiten, auf einen Angriffskrieg anders zu reagieren als mit militärischer Gegenwehr?

Im Irak 2003 ist die irakische Armee einfach verschwunden. Das gibt es auch, das ist eine Option, dann wird man halt besetzt. Die Iraker sind einfach davon ausgegangen, dass die USA eh stärker sind. Aber eigentlich ist die Gegenreaktion auf Gewalt immer Gewalt, wenn man diese Option hat. Wir könnten natürlich mit der Option spielen: massiver ziviler Ungehorsam, das ist die indische Gandhi-Variante. Aber dafür müsste man Massen mobilisieren und am Ende hat man als Mensch intuitiv erst mal Angst vor jemandem mit einer Waffe. Deswegen kann ich mir vorstellen, dass keiner Lust hat, unbewaffnet auf die Straße zu gehen.

Was gibt es für Waffen, auf die man nicht auf den ersten Gedanken kommt? Das Element der Überraschung ist eine Waffe. Ich habe im Februar 2022 extrem viel Überraschung gesehen. Erst bei uns. Später auf Seiten Russlands, dass die Europäer plötzlich so geschlossen reagieren, die doch sonst eigentlich zu jedem Thema uneinig sind. Europa hat sich auch selber überrascht. Die Europäer wussten gar nicht, dass sie so stark reagieren können oder so einig.

Was für Überraschungen haben die Russen in petto?

Ich habe mich länger mit dieser russischen Kolonne auf dem Weg nach Kiew beschäftigt, die sich dann nicht mehr bewegt hat. Wir wissen natürlich jetzt nicht: Liegt es einfach nur an Logistik, Sabotage, ist das Benzin einfach nicht rechtzeitig gekommen oder ist es vielleicht auch eine Reaktion auf unsere Reaktion, dass man gesagt hat: Vielleicht machen wir es doch nicht? Vielleicht war das auch eine falsche Fährte.

Wie meinen Sie das?

»Jedes Mal, wenn jemand Angst vor der Atombombe hat, muss ihm klar sein: Das ist die Geschichte, die Putin in meinen Kopf setzen will.«

Florence Gaub

Wenn das Schlimmste schon mal nicht passiert, Kiew nicht bombardiert, nicht eingekesselt, nicht Aleppo wird und Selenskyj nicht verhaftet, dann können wir womöglich mit Russlands Zielen leben, da sie so nach unten korrigiert scheinen. Überraschung ist eine Waffe an sich. Und eine Waffe ist auch, dass uns nicht klar ist, dass unsere Köpfe Teil des Schlachtfeldes sind. Dass die Geschichten, mit denen wir gefüttert werden, das Ziel haben, uns mit einer bestimmten Version der Geschichte zu manipulieren. Das muss jedem klar sein. Jedes Mal, wenn jemand Angst hat vor der Atombombe, muss ihm klar sein: Das ist die Geschichte, die Putin in meinen Kopf setzen will.

Wie ist das konkret: Welchen Gewinn hätte denn Russland, wenn es tatsächlich die Bombe wirft?

Keinen. Deshalb ist es ja so eine absurde Geschichte. Die Atombombe wurde ja nur zweimal eingesetzt und mit vier Tagen Abstand. Zu einer Zeit, wo nur ein Staat auf der Welt diese Waffe hatte, nämlich die USA. Aber die letzten 70 Jahre hat niemand die Bombe eingesetzt, weil man davon ausgeht, dass jeder Einsatz zu einem Einsatz einer anderen Atombombe führen würde. Im Kalten Krieg hatten beide Seiten so viele Atombomben, dass sie sich mehrfach hätten töten können, daher kommt der Ausdruck Overkill. Trotz zwischenzeitlicher Abrüstung gibt es immer noch genug, und zwar nur, um zu signalisieren: wenn du eine einsetzt, dann setze ich aber auch eine ein. Der Einsatz ist also ein Selbstmordszenario.

Das heißt aber, dass ich eine Atombombe brauche, wenn ich nicht will, dass ich eine abkriege.

Na ja, was denken Sie, warum der Iran an einem atomaren Programm arbeitet? Seit der Irak von den USA besetzt wurde, haben sich einige Staaten in der Region gedacht: Der sicherste Weg, nicht besetzt zu werden, ist der Besitz einer Atombombe. Deswegen ist die Atombombe eine Waffe, die wirkt, wenn man nur damit droht, aber sie nicht einsetzt.

Das weiß Putin auch?

Richard Nixon hat zu seiner Zeit als US-Präsident die Madman-Theory, also die Theorie des Verrückten, bis zum Ultimativen geschoben. Der wollte tatsächlich so verrückt wirken, damit die Sowjetunion denkt, er sei überhaupt nicht berechenbar. So hat er das Spiel mit der Rationalität als Waffe eingesetzt. Und ich glaube, ehrlich gesagt, das macht Putin auch mit uns. Also, Herr Unfried, wenn Sie Angst haben: Ich bin mir total sicher, dass die Atombombe nicht zum Einsatz kommt. In dem Moment, wo Sie die Stimme in Ihrem Kopf hören, dass Putin vielleicht verrückt und komplett unberechenbar sei, sollten Sie wissen, dass Putin will, dass Sie das denken.

Was will Russland denn nun erreichen?

Auf jeden Fall diese russischsprachigen Gebiete im Donbass mit der Krim verbinden und dann dafür sorgen, dass die Ukraine erst mal ein instabiler Staat bleibt.

Wir sind es ja gewöhnt, dass im Kontext von Kriegen Frauen nur in Opferrollen auftreten oder maximal sagen, dass Krieg für die Kinder besonders schlimm sei. Nun kommen Sie und sprechen in Talkshows militärisch, strategisch und völlig nüchtern. Meine Frage: Ist das ein emanzipatorischer Fortschritt oder ein Rückschritt? Oder ist es eine völlig irrelevante Frage?

Allein, dass es so vielen Leuten auffällt, heißt, dass die Frage relevant ist. Ich habe mich einfach inhaltlich mit dem Thema schon früh beschäftigt, weil ich deutsch-französische Eltern habe und meine Großväter Krieg gegeneinander führten. Zu meiner Taufe haben sie sich dann aber kennengelernt. Deshalb habe ich schon früh gespürt, was Krieg mit einer Gesellschaft machen kann und habe mich immer gefragt, was kann man tun, damit es nicht passiert? Und was, wenn es passiert, dass man gut wieder aus einem Krieg rauskommt? Ich habe mich dann viel mit Kriegen im Nahen Osten befasst. Ultimativ muss man jedes seiner Forschungsobjekte mit einer gewissen Distanz und Nüchternheit betrachten, sonst ist man kein Wissenschaftler und könnte auch eine Kolumne in Bild der Frau schreiben. Ich bin eine Frau und ich habe Gefühle. Aber Sie sind ein Mann. Sie haben auch Gefühle.

Ja, genau.

Ich glaube, es ist eine altmodische Sichtweise, dass Frauen grundsätzlich Leben schenken und deswegen angeblich keinen Bezug zur Gewalt haben. Erstens: ich beschäftige mich damit aus intellektueller Sicht. Die Prämisse von Wissenschaft ist, dass man sich für etwas interessiert und es mit seinem Geist durchleuchtet und nicht mit seinem X- oder Y-Chromosom. Zweitens: Es gibt auch Studien, die zeigen, dass Frauen durchaus gewalttätig sind, aber die Gewalt, weil sie schwächer sind, indirekter kommunizieren. Wir erleben also gerade keinen Fortschritt, sondern sehen etwas, was man vielleicht lange ignoriert hat. Ich glaube, Leute wie Ulrike Franke, Claudia Major und ich sind bei Weitem nicht in der Minderheit. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Frauen, die sich dafür interessieren, denn am Ende geht es um die Erfahrung des Menschseins.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.

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