Fleet-„Bereinigung“: Im Schneckentempo?
■ Parzellisten-Vertreter lesen zeitlichen Spielraum aus Rechtsgutachten
Neue Runde im Kampf um das Sanierungsgebiet Waller Fleet: Seit drei Wochen studieren alle Beteiligten das Rechtsgutachten des Münsteraner Professors Bernhard Stüer. Gestern legten die Befürworter des Wohnens auf Kleingartenparzellen ihre Interpretation vor.
Die lautet gründlich anders als die des für den Sanierungsprozess eingesetzten Moderators Peter Kudella (CDU): Das Gutachten widerlege die Position der Bauverwaltung, dass mit der Wohnnutzung im Kleingartengebiet am Waller Fleet kurzfristig Schluss gemacht werden müsse, sagt Herbert Thomsen vom Verein Garten-Wohnkultur. Das Bauressort hatte argumentiert, andernfalls gebe es bald keine rechtliche Handhabe gegen illegal errichtete Gebäude mehr, weil die Besitzer sich vor Gericht auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen könnten. Thomsen fasst seine Rechtsauffassung in ein Bild: „Wenn der Sanierungsprozess ein Auto ist, dann sagt das Gutachten nur, dass es fahren muss und keiner mehr einsteigen darf“, erklärt das PDS-Beiratsmitglied. „Wir streiten nur um das Tempo: 20 Stundenkilometer wären O.K., aber Frau Wischer will Tempo 100 vorgeben.“ Oder im Klartext: Die Stadt muss lediglich ein klar erkennbares Konzept zur Beendigung der unerlaubten Wohnnutzung vorweisen. Zeitlich ist sie dabei nicht gebunden.
Kudella werfen die Gartenwohn-Fans, die im Sanierungsbeirat in der Minderheit sind, nun eine „einseitige Auslegung“ des Gutachtens im Sinne der Bauverwaltung vor. Zudem werten sie es als „Vertrauensbruch“, dass das Gutachten zuerst den Medien und dann den Betroffenen vorgestellt wurde. Moderator Kudella hatte bei der Vorstellung des Gutachtens vor drei Wochen erklärt, jetzt gehe es lediglich noch um eine sozialverträgliche Abwicklung der „Bereinigung“, wie die Vertreibung hunderter Parzellenbewohner im Amtsdeutsch heißt. Die rechtliche Seite sei „ausgelutscht“, nachdem Gutachter Stüer einer dauerhaften Mischung aus Wohnen und Gartengebiet aus baurechtlicher Sicht eine klare Absage erteilt hatte. Dabei sei die Wiederherstellung eines reinen Gartengebiets illusorisch, wie die grüne Baudeputierte Karin Mathes anmerkt: Dem stünden allein schon jene Wohnhäuser im Weg, die eine korrekte Baugenehmigung haben. Bekannt sind davon zwar erst wenig über zehn, aber er „habe Herrn Kudella schon angeboten, im Bauamt nach weiteren zu forschen“, sagt Walter Polz, Vorsitzender der Interessengemeinschaft der Parzellenbewohner (IG).
In einigen Wochen will der Verein Gartenwohnkultur nun ein eigenes Sanierungskonzept vorlegen, das auf dem Stüer-Gutachten fußen soll, aber lange „Auswohnfristen“ vorsieht, vielleicht per Einzugs-Stichtag eingeschränkt. Als „Hilfsargument“ soll es auch eine Berechnung der Folgekosten einer zügigen Umsiedlung bei Wohngeld und Sozialhilfe enthalten. Was sich nicht in Zahlen fassen lassen wird, ist der Verlust der Heimat und sozialer Strukturen, besonders für viele ältere Bewohner gravierend. Walter Polz von der IG zum Beispiel wohnt schon seit 65 Jahren „auf Parzelle“.
Jan Kahlcke
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