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Flaneur des Jahrhunderts

Harte Erfahrungstatsachen und filmreifes Leben: der Kölner Musik- und Kunstsoziologe Alphons Silbermann ist tot. Zuletzt fragte er nach dem deutschen Wissen um Auschwitz

Im August des vergangenen Jahres veröffentlichte er noch seine Essay-Sammlung „Flaneur des Jahrhunderts“. Und das war er gewiss, falls es nicht schon eine Untertreibung ist. Denn Alphons Silbermann war auch ein Vertriebener, ein Flüchtling, der sich zum Welt- und Geschäftsmann entwickelte, bevor er schließlich zum mutigen Rückkehrer wurde, der sich wieder in seiner Heimatstadt Köln niederließ.

Dort war er am 11. August 1909 als einziges Kind des wohlhabenden Kaufmannes Salomon Silbermann geboren worden. Zunächst sah seine Laufbahn den Flaneur nicht unbedingt vor. Doch eine Woche nachdem sich der Justizreferendar 1934 bei dem Staatsrechtler Hans Kelsen promoviert hatte, sah sich Silbermann gezwungen, Deutschland zu verlassen. Nun trieb es ihn in zahlreiche Jobs und Professionen. Er arbeitete als Drucker, Kellner und Kritiker. In Paris stellte er Spielautomaten auf und verteilte als Monsieur „Alphonse“ Animierkärtchen für ein Bordell. Was Gesellschaft ist, erfuhr der spätere Soziologe in Hotelküchen und an Barpianos und nicht zuletzt als Liebhaber schöner junger Männer. Seine Emigration führte ihn schließlich nach Australien, wo er in Sydney mit dem Aufbau einer Hamburger-Kette ein Vermögen machte, das es ihm, der auch an der Musikhochschule in Köln studiert hatte, ermöglichte, sich wieder mit Musik zu beschäftigen.

Nachdem er 1938 Musiklektor am State Conservatory of Music von Sydney geworden war, kehrte er Anfang der fünfziger Jahre nach Europa zurück, um an einem Forschungsauftrag für den französischen Rundfunk zu arbeiten. „La musique, la radio, et l’auditeur“ hieß seine innovative Studie zur Musiksoziologie und zum Massenmedium Radio, die er 1954 veröffentlichte. Musik, Massenmedien und Massenkonsumverhalten blieb er in seiner weiteren Forschung treu, wobei er sich ebenso mit Adorno über das gesellschaftliche Verständnis von Musik streiten konnte, wie er später einen Trend zur Designerbemöbelung deutscher Wohnzimmer feststellen mochte.

Zu den „Rezitativen und Arien aus einem Leben“, wie der Flaneur-Essay im Untertitel heißt, gehörte zuletzt wieder die Frage nach dem jüdischen Leben in Deutschland. Noch am 17. Februar dieses Jahres stellte der Rowohlt Verlag seine empirische Erhebung „Auschwitz: nie davon gehört“ vor, der zufolge jeder fünfte Jugendliche in Deutschland noch nie von den nationalsozialistischen Vernichtungslagern gehört hat. Am Samstag starb der innovative und streitbare Wissenschaftler im Alter von 90 Jahren in Köln. Wbg

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