Flaneur-Comic aus Japan: Er hat kein Ziel, aber er geht los
Im Comic „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“ entdeckt ein Mann seine Heimatstadt Tokio neu. Dabei überzeugen nur die Zeichnungen.
Das Serendipitätsprinzip – benannt nach einem persischen Märchen über die drei Prinzen von Serendip, einem alten Namen Sri Lankas – beschreibt die zufällige Entdeckung von etwas Schönem, nach dem man gar nicht gesucht hat. Diese Kulturtechnik kann man zwar nicht gezielt anwenden, aber aktiv unterstützen, indem man sich treiben lässt. Das hyperverlinkte Internet ist ein guter Ort dafür, aber eigentlich eignet sich auch die Stadt, in der man lebt, hervorragend. Einfach losgehen – unterwegs wird man schon irgendwas entdecken.
Auf diese Weise ist auch „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“ entstanden. Der heute 27-jährige Autor Masayuki Kusumi begab sich für seine acht Episoden auf mehrere Spaziergänge durch Tokio. Keine Vorab-Recherche, keine empfohlenen Routen, kein Zeitdruck waren dabei die Regeln. Seine Erlebnisse lässt er ein Alter Ego rekapitulieren: Jouji Uenohara, Mitte 30, Abteilungsleiter in einem Marktforschungsunternehmen, kinderlos, verheiratet.
Der Diebstahl des geliebten Fahrrades zwingt Uenohara zum ersten Spaziergang, danach lässt er sich immer bewusster auf seine Touren ein. Kleine Reisen in die kleinen Welten, die Tokios alte Viertel, Ladenzeilen und Nachbarschaften noch immer bilden. Und er findet dort tolle Dinge: in einem Laden kann er eine Replika der Edison-Glühbirne von 1879 kaufen, in einem anderen Geta-Sandalen mit Fahrradreifensohlen, er trifft Hunde und alte Schulfreunde, findet ein Buch aus seiner Schulzeit, das er endlich zu Ende liest.
Endloser innerer Monolog
Die Liebe für Abseitiges und Details, ein bewusster Verzicht auf eine Story. Eigentlich könnte alles stimmen in „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“ – und dann stimmt leider gar nichts. Schuld daran ist der endlose innere Monolog von Jouji Uenohara, der unfassbar bieder und altklug ist.
In einer schablonenhaften Nostalgie bedauert er permanent, dass alles nicht mehr so ist wie früher („Mir gefällt es nicht, dass die Stadt immer weiter in den Himmel hineinwächst“), erfreut er sich ganz grauenvoll bewusst an den kleinen Dingen des Alltags („Eine Boutique und ein Trockenfischgeschäft Seite an Seite. Das hat Charme!“) oder ergibt sich einfach nur in Banalitäten („Lustig. Der Bus wirkt wie ein Spielzeug. Aber es fahren eine Menge Leute mit“).
Das ist natürlich schön für Uenohara und sicherlich eine Leistung für einen leitenden Angestellten, der jetzt so langsam entdeckt, dass das Leben mehr bietet als Arbeit („Ich sollte mich mehr um mich sorgen. ’Morgen früh raus‘, nicht sehr spannend.“) – aber für alle, die das schon länger wissen, eher egal und fremdschämbehaftet, so, wie wenn Teenager die einfachsten Dinge der Welt als exklusive Entdeckungen vorbringen.
Den Text komplett ausblenden
Deswegen funktioniert das Buch letztlich am besten, wenn man den Text komplett ausblendet und sich nur von den wirklich schönen Bildern Jiro Taniguchis leiten lässt. „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“ ist bereits die achte Carlsen-Veröffentlichung des 1947 geborenen Zeichners, der mit „Vertraute Fremde“ unter anderem die Preise der Comicfestivals von Angoulême oder auch Erlangen gewann.
Taniguchis Zeichnungen sind unverkennbar japanisch, gleichwohl aber von frankobelgischen Traditionen beeinflusst. Sein unheimlich feiner Strich hält hochrealistisch Augenblicke in fotohafter Qualität fest, seine Bilder zeichnen sich durch Klarheit, Eleganz, Aufgeräumtheit und Detailversessenheit aus.
Dumm bloß, dass die langweiligen Gedanken Uenoharas in sehr großzügige Sprechblasen verteilt wurden – und so die meisten der Zeichnungen zukleistern. Und dumm auch, dass Carlsen eine fatale Fehlentscheidung bei der Produktion getroffen hat: Konzipiert wurde die Geschichte nämlich als Fortsetzungsfolgen für das großformatig erscheinende japanische Comicmagazin Tsuhan Seikatsu. Carlsen übernahm aber die auf dieser Grundlage angefertigte Taschenbuch-Version des Buches, um den Verkaufspreis geringer zu halten.
So aber ist der Detailreichtum in den Bildern Taniguchis nur mit einiger Anstrengung zu erfassen. Und da hilft es dann auch nicht mehr, dass Carlsen dem Band Produktionsnotizen Kusumis zu den einzelnen Routen angehängt hat, was man sich in dieser Ausführlichkeit viel häufiger wünschen würde. Anstelle von „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“ ist lieber ein langer Spaziergang zu empfehlen. Aber ohne Stadtplan!
Jiro Taniguchi, Masayuki Kusumi: „Der geheime Garten vom Nakano Broadway“. Aus dem Japanischen von Sachiko und Achim Stegmüller. Carlsen, Hamburg 2012, 104 Seiten, 12 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht