Fischfang an der Ostsee: Vom Brotfisch zum Gourmethäppchen
Auf Hiddensee wollen acht Fischer dem Hering zur verdienten Anerkennung verhelfen. Auch um selbst zu überleben.
Die Winde quietscht und zieht weitere drei Meter Netz und Fisch vom Deck des Kutters hoch auf die stählerne Rutsche an Land. Steffen Schnorrenberg und seine fünf Helfer im Hafen von Barhöft strecken kurz den Rücken. Die Männer stecken in rotem und gelbem Ölzeug, das von silbernen Schuppen gesprenkelt ist, und sie tragen warme Mützen, denn es ist noch recht frisch heute Morgen. Gleich geht es weiter. Fisch um Fisch, Stück für Stück, Hunderte, Tausende. Die Hände in schleimverschmierten blauen Gummihandschuhen pulen sie die Heringe sorgfältig aus den Maschen, in denen diese sich mit ihren Kiemen verfangen haben, und werfen sie platschend in eine große Wanne.
Vor einer Stunde erst sind sie zurückgekehrt aus dem Bodden, dem Flachgewässer vor Rügen. 30 Minuten vor der Küste haben sie die acht Stellnetze aufgenommen, die sie am Vortag ausgebracht haben, jedes 250 Meter lang. Geredet wird jetzt nicht viel. Die Arbeit dauert bis in den späten Vormittag, man kennt sich, und die Menschen hier oben neigen ohnehin nicht zu überflüssiger Konversation. Außerdem herrscht in diesen Zeiten unter Küstenfischern nicht die beste Stimmung.
Rund drei Tonnen Hering haben sie heute an Land gebracht, schätzt der 48-jährige Fischer. Das ist nicht übel. 60 Tonnen dürfen er und sein Kollege, mit dem er sich zusammengetan hat, dieses Jahr aus dem Wasser holen – nur noch die Hälfte der Quote des letzten Jahres. Sinkende Fangmengen, steigende Auflagen, eine wuchernde EU-Bürokratie sowie mangelnder Nachwuchs – darüber klagen alle Küstenfischer.
Image für den Hering
Der Hering ist der Brotfisch auf und um Rügen und Hiddensee, er macht 70 Prozent der Fänge aus. Der Preis dafür aber war in den letzten Jahren fast nicht mehr kostendeckend. Schollen, Makrelen, Zander fallen kaum ins Gewicht. Die Dorschquote stieg in diesem Jahr zwar um 70 Prozent, aber das gleicht die Verluste beim Hering nicht aus.
An Ost- und Nordsee
In Lübeck-Travemünde, in Burgstaaken auf Fehmarn, in den vorpommerschen Orten Freest und Altwarp sowie in vielen anderen Häfen an der deutschen Ostseeküste verkaufen sie je nach Saison Hering, Dorsch, Butt und Hornhecht. An der Nordsee sind in Husum, Kappeln, Maasholm, Dagebüll und anderswo Krabben, Seezunge und Schollen im Angebot.
Liegeplätze und Verkauf
Die Infoportale www.fischvomkutter.de und www.fischerleben-schleswig-holstein.de informieren täglich aktuell, wo an der Ostseeküste welche Fische angeboten werden. Ein ähnliches Onlineangebot für Mecklenburg-Vorpommern bietet www.auf-nach-mv.de/fischer, auch Infos über Fischereimuseen, Räuchereien, Fischmärkte und auch die Seenfischerei.
Was schmeckt
Welche Fische aus der See mit gutem Gewissen gefangen und vom Endverbraucher gegessen werden können, zeigt der Einkaufsratgeber www.wwf.de/aktiv-werden/tipps-fuer-den-alltag/vernuenftig-einkaufen/einkaufsratgeber-fisch.
Wo gibt es was
Informationen zur einer umweltbewussten Ernährung, die auf die Gefährdung einzelner Arten Rücksicht nimmt, sowie Rezepte allerlei Art bietet www.ndr.de/ratgeber/kochen/warenkunde/Fisch-essen-Liste-der-wichtigsten-speisefische,fischkunde101.html
Auf See
Wer wissen will, wie es da draußen auf See eigentlich zwischen Mensch und Fisch zugeht, findet unter www.niendorf-fisch.de ein kurzes Video.
Halbwegs zufrieden mit ihrem Einkommen sind deshalb nur Fischer, die ihren Fang im Fischbrötchen selbst an Touristen verticken, im eigenen Kamin räuchern. Doch dann, wenn der Hering in Mengen gefangen wird, im Februar und März, sind keine Besucher unterwegs. Es gilt also, nach Nischen zu suchen. Überleben werden die, die Ideen entwickeln.
Steffen Schnorrenberg gehört zu ihnen. Zusammen mit sieben Kollegen hat er 2016 den Verein Hiddenseer Kutterfisch gegründet, um der Misere Einhalt zu gebieten. Den Anstoß dazu gab ein Rügener, Mathias Schilling. Er wohnt auf der kleinen Insel Öhe, züchtet dort Limousin-Rinder und bringt ihr Fleisch im eigenen Gasthaus in Schaprode auf den Tisch. Zwei Gedanken trieben ihn an: Wenn der Hering, erstens, endlich sein Image als Armenfisch abstreifen würde, müssten seine Nachbarn, zweitens, endlich gut von ihrer Arbeit leben können. Das leuchtet ein.
„Aber Fischer sind eine ganz eigene Spezies“, lacht der smarte Mittvierziger. Fischer sind sture Dickköpfe, meint er. Und so dauerte und dauerte es, bis sie sich zusammenrauften, aber am Ende stand der Verein.
Design für die Heringsdose
„Wir haben uns gefragt: Was machen andere, um von ihrer Arbeit an Bord überleben zu können?“, erzählt Schilling. In Portugal und Frankreich wurden sie fündig. Dort entdeckten sie, dass bunte, künstlerisch gestaltete Dosen mit Ölsardinen, Muscheln oder Kraken sich bestens verkauften und sogar zu so etwas wie Sammelobjekten geworden waren. „Die einzige Möglichkeit war: Auch wir mussten unser Produkt zur Marke machen.“
Und also suchten sie sich zunächst in Stralsund einen Verarbeiter, der bereit war, ihre nicht allzu großen Chargen an Hering zu filetieren, über Buchenspänen zu räuchern und mit Öl oder Soßen einzudosen. Und sie entwarfen Schuber, in die die Dosen gesteckt werden sollten: edle Pappkartons in vornehmem Hellgrau, die neben dem Logo stimmige Fotos in Blautönen tragen: Auf den Räucherheringen prangt ein Kutter in voller Fahrt, die Heringsfilets mit Senf und Dill ziert das Halbrund eines Keschers, die Variante Tomate kommt mit einem Bootsbug namens „Heimat Vitte-Hidd“ daher. Auf den Bücklingsfilets mit Pfeffer aber blicken die Fischer selbst, Michi und Henry, Micha, Steffen, Ralf, Sven und Marion, skeptisch, fröhlich und erwartungsvoll ihren Kunden entgegen. Ein Bild, das auf Hiddensee inzwischen als kultig gilt.
Steffen Schnorrenberg, Fischer
Auch auf regionale Nachhaltigkeit setzten sie von Anfang an: Das Rapsöl stammt aus Rothenkirchen, der Senf kommt von der Senfmühle Schlemm, die Etiketten werden in Bergen gedruckt und auch in einer Behindertenwerkstatt dort aufgeklebt.
Rund 4 Euro kostet eine Dose Bückling in Öl, ein stolzer Preis, wenn ähnliche Ware anderswo schon für 1,20 im Regal liegt. Die Fischer erhalten 1 Euro pro Kilo Hering, mehr als das Doppelte dessen, was der Großhandel ihnen zahlt. Die Hälfte bekommen sie bei Ablieferung, den Rest später: Noch kann es sich der Verein nicht leisten, in Vorleistung zu gehen.
20 Cent von jeder Dose gehen an den Verein, für Organisation und Öffentlichkeitsarbeit, wie etwa die Vorbereitungen für ein jährliches Fisch- und Wollfest. 17.000 Dosen haben sie im ersten Jahr verkauft. 2018 waren es schon 50.000. Und in dieser Saison werden 100.000 hergestellt.
Endstation Manufactum
Die Hiddenseer Edelkonserven sind schnell bekannt geworden. Dazu tragen natürlich die vielen Touristen bei, die die eleganten Kartons von den Inseln gern als Souvenir mitnehmen. Leicht ironisch schreibt der „Hiddenseer Kutterfisch – Konservenladen“ in Vitte über sich: „Fast könnte man meinen, es gehe uns darum, die touristischen Truppenteile der Neuzeit ebenso zu versorgen wie einst der Kaiser der Grande Nation“ – Napoleon nämlich, der einst den Anstoß zur Entwicklung der Konservendose als Nahrungsbehältnis für seine Soldaten gab.
Aber auch das Konzept und das Produkt überzeugen. Im letzten Jahr erhielt der Verein bei der Grünen Woche in Berlin den dritten Platz im Startup-Wettbewerb und er wurde Zweiter beim Tourismuspreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Noch wichtiger ist, dass sich die feine Ware inzwischen im Katalog von Manufactum, in den Regalen des KaDeWe in Berlin und bei anderen für Feinschmecker wichtigen Adressen findet.
So verwegen zu glauben, dass sich mit ihrem Modell die Küstenfischerei insgesamt retten ließe, sind auch die Hiddenseer nicht. Aus Sicht der EU taugen die paar kleinen Fischer mit ihren paar kleinen Kuttern gerade noch als folkloristisches Accessoire für meerselige Touristen. Wirtschaftlich spielen sie in den Planungen ebenso wenig eine Rolle wie kleine Bauernhöfe. Vielleicht zögern die Kutterfischer mit ihrem cleveren Modell ihr endgültiges Verschwinden also nur ein paar Jahre hinaus.
Vielleicht aber sind sie, auch preislich, nur ihrer Zeit voraus. Wenn die Fangquoten für Hering in der östlichen Ostsee weiterhin so radikal sinken, wird Hering irgendwann zur teuren Spezialität werden. Und das „Silber des Nordens“ erzielt dann endlich den Preis und erhält die Wertschätzung, die ihm immer schon zustehen.
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