piwik no script img

Finanzkrise trifft Lettland hartBaltischer Tiger vor dem Bankrott

Die Finanzkrise hat das einstige Boomland hart getroffen. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Löhne sinken. Unter den Menschen macht sich Perspektivlosigkeit breit.

Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal: Passanten stehen vor lettischer Bank. Bild: dpa

Wer auf Rigas Straßen spazieren geht, kann kaum glauben, dass Lettland gerade seine schwerste Wirtschaftskrise seit gut zwölf Jahren durchlebt. Vielleicht taktet der Verkehr ein bisschen langsamer, aber sonst? Auf den ersten Blick wirkt alles ganz normal: Frauen in schicken Kostümen und Männer in gut geschnittenen Anzügen eilen zur Arbeit. Ihre neuen Autos parken sie vor spiegelnden Glas- und Stahlbauten oder restaurierten Jugendstilbauten.

Doch dies ist nur die Fassade. Wer in die Hinterhöfe geht, in ein russisches Wohnviertel oder eine der Pelmeni-Bars, wo man sich für wenig Geld halbwegs satt essen kann, erlebt ein ganz anderes Riga. Eines, in dem den Menschen die die blanke Angst ins Gesicht geschrieben steht: Bloß nicht zum Bettler absinken!

Noch vor fünf Jahren hatte alles ganz anders ausgesehen. Mit gut 10 Prozent Wirtschaftswachstum schloss Lettland zu den "baltischen Tigern" Estland und Litauen auf. In den drei goldenen Jahren bis 2007 kauften viele Letten auf Kredit neue Wohnungen, Häuser und Autos. Die Wirtschaft boomte, und auch die Regierung ließ sich nicht lumpen, erhöhte massiv die Gehälter seiner Beamten, passte die Renten an, investierte in Infrastruktur, förderte den Dienstleistungssektor und insbesondere die Tourismusbranche. Alles auf Pump.

Mit dem Ausbruch der internationalen Banken- und Wirtschaftskrise 2008 platzte die schillernde Blase. Jetzt rächte sich, dass Lettlands ausländischer Bankensektor Kredite zu 90 Prozent in Euro und Dollar vergeben hatte. Der Druck auf die fest an den Euro gekoppelte Landeswährung Lats wurde so stark, dass von Abwertung gesprochen wurde. Damit sollten Mittel freigesetzt werden, die die Regierung zur Stützung des Kurses ausgeben musste. Doch die Abwertung des Lats würde tausende von Kreditnehmern in den Ruin treiben.

Heute steht Lettland kurz vor dem Bankrott. Die Wirtschaftsleistung des Landes wird dieses Jahr um schätzungsweise 20 Prozent schrumpfen, so dramatisch wie in keinem anderen Land der EU. Zwar bewilligten der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission schon im Dezember 2008 einen Notkredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro, doch die Auszahlung der einzelnen Tranchen verzögert sich immer wieder. Die Konsolidierung des Haushalts gehe zu langsam voran, so der Vorwurf.

"Um mich herum verlieren alle ihre Arbeit", erzählt Linda, die in einer Filiale der Supermarktkette Maksima hinter der Fleischtheke steht. "Wir verdienen immer weniger, geben fast das ganze Geld für die Wohnung und das Essen aus." Von ihren Rigaer Freunden hätten schon etliche ihre Autos wieder verkauft. "Die konnten den Kredit nicht mehr bezahlen. Wir reden gar nicht mehr über die Krise, sondern nur noch darüber, wie wir sie überstehen." Innerhalb von nur einem Jahr ist die Arbeitslosigkeit in Lettland von rund 6 auf über 16 Prozent gestiegen. Bis Ende des Jahres könnte die Zahl der Arbeitslosen um weitere 30.000 auf dann 180.000 ansteigen. Vor den Arbeitsämtern werden die Schlangen immer länger. Doch es gibt keine Angebote.

Die Regierung zieht ein rigoroses Sparprogramm durch, schont auch die Minister, Abgeordneten und Staatsbeamten nicht. Für sie gibt es ab Juli 20 Prozent weniger Gehalt, die Renten wurden um 10 Prozent gekürzt. Schulen und Krankenhäuser werden geschlossen, das Straßenbauprogramm zusammengestrichen. Doch das Haushaltsloch ist immer noch so groß, dass bereits einige Steuern sowie die Alkohol- und Zigarettenakzise angehoben werden mussten.

"Ich sehe hier keine Zukunft für meine Kinder", sagt die Sportlehrerin Swetlana Stroganowa. "Ich glaube nicht mehr an dieses Land. Es produziert nichts, was der Rest der Welt haben will", erklärt die 44-Jährige, die mit Sohn und Tochter in einer Dreizimmerwohnung in Riga lebt. Nach der Gehaltskürzung verdient sie gerade noch 370 Latu (rund 520 Euro) im Monat. "Das reicht vorne und hinten nicht." Allein die Heizkosten im Winter summierten sich auf 100 Latu (140 Euro) monatlich. Bevor es noch weiter bergab ginge, packe sie lieber ihre Koffer und reise zurück nach Russland.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!