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Der Zeit einen Mittelpunkt bieten

Zu „The Long Now“, der über 30 Stunden dauernden Abschlussveranstaltung des Festivals für Zeitfragen MaerzMusik, stellen die Veranstalter*Innen dieses Jahr die Hypothese auf, dass „Krieg herrscht zwischen den Zeitlichkeiten“. Musik soll das mal wieder schlichten

Von Stephanie Grimm

Die seltsame Art und Weise, wie die Zeit vergeht, beschäftigt die Menschen seit jeher. Dass man auf immer divergierenderen Zeitachsen unterwegs ist, macht die Sache nicht leichter. Da sind zum Beispiel Vorstellungen einer guten alten Zeit, die als Idee recycelt wird und uns etwa in Form von Retro-Phänomenen begegnet. Und die einer zukünftigen Zeit, die naturgemäß abstrakt und trotzdem zunehmend bedrohlich erscheint, angesichts vieler tickender Zeitbomben, ob ökologischer oder demografischer Art.

Es gibt die Zeit, die in unserer Wahrnehmung nicht vergehen will. Und die, die galoppiert. Letztere scheint immer öfter zu gewinnen, aber das hat bekanntlich mit dem Lebensalter zu tun. Und während sich die Raum-Zeit-Bindung unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung auflöst, sind wir alltagschronologisch zunehmend eingetaktet und von Zeitfresser-Gerätschaften umgeben. Trödeln ist zum Luxus geworden. Löcher-in-die-Luft-Gucken erst recht.

Viele Gründe also, mit der subjektiven und objektiven Zeiterfahrung ein bisschen zu spielen. Was bietet sich dafür besser an als die 30 Stunden dauernde Abschlussveranstaltung „The Long Now“ des avantgardistischen Festivals MaerzMusik? Schließlich trägt die Veranstaltungsreihe diesen Anspruch seit vier Jahren im Titel, nach dem Bindestrich nennt sich MaerzMusik nämlich „Festival für Zeitfragen“. Bis 2014 hieß es übrigens „Festival für aktuelle Musik.

„Music offers time a centre“

Der Fokus passt, steckt doch auch der Zeitbegriff der Avantgarde voller Ambivalenzen. Zum einen ist der Anspruch, der Zeit voraus zu sein, im ursprünglichen Wortsinn verankert. Woraus in der Praxis bisweilen geworden ist, dass sich Avantgarde-Kunst erlaubt, über der Zeit oder ihrem Geist zu stehen, also eher Zeitloses zu schaffen.

In diesem Jahr stellen die Festivalmacher gar die Hypothese auf, dass „Krieg herrscht zwischen den Zeitlichkeiten“. Und Musik soll das mal wieder schlichten. Zumindest beruft man sich auf ein Diktum des letztes Jahr verstorbenen britischen Schriftstellers, Autors und Malers John Berger: „Music offers time a centre“ – Musik bietet der Zeit einen Mittelpunkt.

Sich über Musik in Raum und Zeit verankern: bei „The Long Now“ kann das tatsächlich gelingen. Nicht zuletzt dank der Location des Kraftwerks Berlin, die über zwei Abende, eine Nacht und einen Tag mit Live-Musik, Sound- und Videoinstallationen bespielt wird. Die Programmpunkte rücken angesichts des Überwältigungspotenzials dieses kathedralenhaften Industrierelikts bisweilen in den Hintergrund – obwohl sie in diesem Jahr ganz schön gut sind, mit The Necks (am Samstagabend) oder auch Colin Stetson (am Sonntagsabend) und diversen spannenden Präsentatio­nen zwischendurch, etwa dem Stück „Capricon’s Nostalgic Crickets“ des rumänischen Komponisten Horatiu Radulescu. Das wird ausschließlich mit gleichen Instrumenten gespielt, in diesem Fall sieben Klarinetten.

Das Publikum ist eingeladen, über das Maß an Zeit hinaus zu verweilen, das man üblicherweise dem Besuch einer Kulturveranstaltung zugesteht. Sogar Betten werden bereitstehen. Wer sich also etwa beim extralangen Konzert der Necks auf eine andere Zeitwahrnehmung einschwingt, darf ruhig noch den Rest der 30 Stunden bleiben. Bei dem Trio handelt es sich um eine Art Ambient-Jazz-Band aus Australien, manche sagen auch Dark Jazz zu ihrer zugänglichen und doch fordernden Musik – auch wenn dem Schlagzeuger Tony Buck dieses Etikett missfällt, schließlich habe man aus einer „Unzufriedenheit mit dem Jazz“ heraus zusammengefunden. Seit gut 30 Jahren spielen sie zusammen und lassen sich selbst immer wieder überraschen, was so entsteht. Für gewöhnlich stehen sie zu dritt auf der Bühne, bei „The Long Now“ allerdings werden sie mit dem A’ Trio auftreten – vier Stunden lang.

Auch bei kürzeren Gastspielen ­geben The Necks ihrer Musik viel Zeit und Raum. Die Stücke sind nicht selten eine Stunde lang, halten aber auf erstaunliche Weise die Spannung – so, dass die New York Times das Trio schon einmal „eine der besten Band der Welt“ nannte und ganz unterschiedliche Künstler – Brian Eno, Karl Hyde (vom Elektronik-Duo Underworld) oder die Drone-Noise-Band Swans – mit ihnen arbeiten wollten.

Auch der Saxofonist Colin Stetson pflegt eine Nähe zum Popbetrieb – Feist, Arcade Fire, Bon Iver oder TV on the Radio sind nur ein Ausschnitt der Liste seiner Kollaborationen. Vor allem aber ist er eine Instanz im Avantgarde- und Jazz-Betrieb. Mit einer speziellen Atemtechnik und der eigenwilligen Mikrofonierung schichtet er einen „wall of sound“ auf, sodass man bei seinen Auftritten fast vergisst, wie sein Instrument eigentlich klingt.

Durch die Nacht führt das Duo Elodie mit einem eher reduziert-minimalistischen Sound. Und spätestens frühmorgens darf man sich dann fragen, ob nicht auch auf einer Veranstaltung wie dieser alles irgendwie seine Zeit hat – etwa, wenn die Japanerin Tomoko Sauvage mit Klängen experimentiert, die sie mit Wasser gefüllten Keramikschalen entlockt. Das klingt doch nach sanftem Gewecktwerden. Wissen wird man es erst, wenn man erlebt, inwiefern sich Mitternacht in diesem eindrucksvollen Ambiente anders anfühlt als der Frühstücks-Slot. Allein dafür lohnt es sich, das Angebot dieser ungewöhnlichen Veranstaltungsdramaturgie anzunehmen.

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