Filmstart "Julia" mit Tilda Swinton: Ohne Genreterror
Der Film "Julia" von Regisseur Erick Zonca kennt keine geraden Linien, hat aber eine tolle Hauptdarstellerin: Tilda Swinton. Der bekommt sogar das Overacting.
Happy Hour in L. A. Freitag. Trinken und abschleppen. Julia (Tilda Swinton) greift nach jedem Sektglas. Sie läuft groß auf. Die Handkamera hat Mühe, ihr im Gewimmel zu folgen. Sie ist die Größte in der Stunde des Overactings, und das ist nicht too much, sondern die Lage der Fakten. Zur Situation gehört, dass es eher dunkel ist, und zwar ziemlich lila. Am nächsten Morgen ist es arg sonnig, weiß und überbelichtet. Julia wird vom Lover aus dem Taxi geworfen. Sie liegt auf der Straße. Nachmittags eine neue Tatsache. Das Gelabere bei den AA. Der Termin überschneidet sich mit der nächsten Happy Hour. Julia reagiert auf das, was ihr im Film 138 Minuten lang passieren wird. Und, versprochen, es geschieht Unabsehbares ohne Ende.
Da nichts relativiert wird, stellt man sich den Film besser als eine endlose Kette von Hauptsätzen vor. Und die erklären nichts. Sie bleiben sachlich. Gleich in den ersten Sequenzen wird klar, dass wir nichts über das Warum und Wie-kam-es-dazu erfahren werden. Vergangenheit gibt es nicht. Die alkoholkranke Powerfrau hält sich fit für das, was kommt. Zum Beispiel ein Kind zu entführen und dem Arschloch von Großvater Millionen abzupressen. Schon hält sie dem frechen Neunjährigen eine Pistole an den Kopf. Klebeband auf den Mund. Rein in den Gepäckraum und ab Richtung Mexiko.
Wir sind jetzt in einem anderen Film. Die Trinkersequenzen vom Anfang können wir vergessen. Eine Exposition war das nicht gewesen. Wohl aber ein Verstoß gegen die Regeln eines Genres (Psychodrama) und eines Drehbuchs sowieso (wieso, weshalb, warum). Und ein Thriller wird es auch nicht. Wird die Entführerin gefasst? Darf eine Frau den kleinen Jungen zur Brust nehmen, nackt im Bett? Darf sie, verfolgt von der Bundespolizei, mit dem Auto die Grenzmauer durchbrechen und sich in Mexiko, dem Land der Freiheit, sicher fühlen? Darf die das alles? Der Film hat uns abgewöhnt, überhaupt diese Fragen zu stellen. Es passiert, was passiert. Die Moral von der Geschicht, sie gibt es nicht. Und nun das Größte. Wenn der Film so funktioniert, wie er funktioniert, dann ist der Zuschauer derjenige, der sich im Modus der Amoral wiederfindet. Denn die Identifizierung mit Tilda Swinton lässt nicht nach. Ganz im Gegenteil. Sie ist die Größte. Ganz unabhängig davon, dass sie grade einen Oscar bekommen hat (für "Michael Clayton").
"Julia" ist ein Film der radikalen Beiläufigkeit. Was passiert, wird gekontert. Dazu braucht es keinen Plan. Der würde nur den Körper daran hindern, den Instinkten zu gehorchen. Erick Zonca (Buch und Regie) hat deswegen dem gewohnten Linearen abgesagt. Wenn der kleine Junge im letzten Drittel des Films die Entführerin als Mutter nimmt, wird damit weder bei ihm noch bei ihr etwas gewandelt werden. Sperr dich nicht, lass es einfach geschehen. Die Fahrt im Auto geht schon mal im Kreis, auch zurück. Die Strecke ist so wahllos wie die Mittel, die Julia wählt. Im Auto oder zu Fuß durch die Salzwüste - das ist kein Highway-Geradeaus. Der Film zitiert die gelbe Mittellinie aus den Filmen von David Lynch, nachts. Aber jetzt ist es tags, wieder leicht überbelichtet, und "Julia" ist aus der Spur.
Zum Schluss steht Tilda Swinton auf dem Highway, umbrandet vom Verkehr. Kein Happyend, aber unhappy ist sie auch nicht. Wenn jemand erlöst wird, dann ist es der Zuschauer, von den Restriktionen des Genreterrors. Die Swinton bleibt ganz nah. Nichts ist erledigt. Können müsste man das, dieses aus dem Bauch heraus. Körper sein. Ihm trauen. Deswegen noch ein Hauptsatz. Ich bin Fan von Tilda Swinton.
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