Filmstart „Die andere Heimat“: Geschundenes Deutschland

Mit seinem Filmepos „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ schaut Edgar Reitz auf die triste, ärmliche deutsche Provinz im 19. Jahrhundert.

Aus dem Hunsruck nach Brasilien: Auswanderer im 19. Jahrhundert in Edgar Reitzs „Die andere Heimat“. Bild: dpa

Manchmal kann das Kino zum wunderbaren, unterhaltsamen und bewegenden Geschichtsunterricht werden. Doch wie vergegenwärtigt man die Vergangenheit? Wie setzt man Biografien in einen historischen Kontext, ohne dass die Geschichte nur Kulisse und Kostüm wird? Oder Lehrstück?

Vielleicht muss ein Regisseur zunächst einmal die Chuzpe haben, sich alle Zeit zu nehmen, wenn er vor den Augen des Zuschauers eine Welt wiederauferstehen lassen will, wenn er einen tieferen Einblick in das Leben, in die Stimmungen, Gefühle und den Alltag einer anderen Epoche geben möchte. Es ist das Gefühl einer unstillbaren Sehnsucht, eines aus heutiger Sicht überraschenden Fernwehs, das sich in die ersten Szenen von Edgar Reitz’ neuem Heimatfilm regelrecht einschreibt.

Die Kamera fängt die Weite eines Getreidefeldes ein, der Wind rauscht, die Halme rascheln, und aus dem Off hört man die Beschreibungen vom Alltag der Ureinwohner in Brasilien. Die deutsche Landschaft wird zu einer Projektionsfläche für einen anderen, exotischen Alltag. Deutschland im Jahre 1842, das Zeitalter der Alphabetisierung hat begonnen, und Jakob liest alles, was ihm in die Hände fällt – Bücher als Fenster zur Welt. Mit einer großen Vogelfeder im Haar liest der etwa 18 Jahre alte Junge laut aus einem Buch über die Urwaldindianer vor. Und nicht nur das – er erlernt sogar ihre Sprachen, weil er davon träumt, eines Tages in die Fremde aufzubrechen.

„Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“.

Regie: Edgar Reitz.

Mit Marita Breuer, Jan Dieter Schneider u. a.

Deutschland/ Frankreich 2013, 230 Min.

Es ist Jakobs Perspektive, die Edgar Reitz im vierten Teil seines „Heimat“-Projekts einnimmt. Es mag sich um eine romantische Ausformung des Fernwehs handeln, dennoch erzählt es von einer größeren, fast schon existenziellen Sehnsucht.

So lässt sich auch der Titel „Die andere Heimat“ erklären, denn die bitterarme deutsche Provinz Mitte des 19. Jahrhunderts bot ihren Bewohnern nicht die Lebensgrundlagen für einen friedvollen Alltag. Edgar Reitz erkundet die Überlebenskämpfe jener Jahre, und wieder ist der kleine fiktive Ort Schabbach im Hunsrück das Zentrum seiner Erzählung.

Nimmt man die bisherigen Teile seines monumentalen Heimat-Projekts zusammen, ergibt sich eine Familien- und Zeitchronik des 20. Jahrhunderts – von der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vom Wirtschaftswunder in die Aufbruchstimmung der 68er Bewegung, vom Fall der Mauer ins wiedervereinigte Deutschland.

Bildfüllendes Schweigen

Da diese Trilogie größere Zeitabschnitte beschreibt, bot sich ein episodisches Erzählen an. Und da es in „Die andere Heimat“ wiederum um das Erspüren einiger weniger Jahre geht, entschied sich der 80-jährige Edgar Reitz, seine Vergangenheitsexpedition in eine große vierstündige Erzählung mit epischen Bogen zu fassen.

In tiefenscharfen, gemäldehaft komponierten Schwarz-Weiß-Bildern erzählt er von Jakobs Liebe zu Jettchen, der kein Glück beschieden ist. Ein Ausrutscher bei einem Dorffest wird ihr Schicksal in andere Bahnen lenken, sie zur Frau seines Bruders machen. Und während er dem Leben dieser drei jungen, zunächst noch hoffnungsfrohen Menschen folgt, rekonstruiert Reitz ganz beiläufig die Härten des Handwerker- und Bauernlebens. Die schweren Kleider erscheinen eine Last beim Tragen, doch schützen sie vor Wind und Wetter.

Auch wenn die Kamera in den Backstuben und Werkstätten die müden, überarbeiteten Gesichter von Jakobs Eltern aus nächster Nähe zeigt, ermöglicht das Cinemascope-Verfahren einen größeren Ein- und Überblick. Eine Welt wird durch Möbel und Werkzeuge, durch routinierte Handgriffe lebendig. Oder durch das bildfüllende Schweigen am Esstisch nach einem weiteren anstrengenden Arbeitstag. Auch durch die Sprache: einen schroffen Singsang, der heute in Deutschland nicht mehr existiert und nur in den Enklaven Hunsrücker Einwanderer in Brasilien überlebt hat.

Hier wird also nicht Vergangenes, Entschwundenes nachbebildert, sondern eine Zeit von innen heraus mit Leben gefüllt. Auch die Folgen von Missernten, die Tod und Krankheit mit sich bringen, die Unterdrückung und Ausbeutung durch die Obrigkeit sowie die Enge des religiösen Denkens macht der Film eher spürbar, als davon zu berichten.

Ein Gutteil der Größe von „Die andere Heimat“ liegt in einer Perspektivverschiebung. Edgar Reitz wirft einen Blick auf Deutschland und damit auf ein Westeuropa, das sich heute gern als von Fremden überflutete Einwandererregion sieht und doch selbst einmal ein Kontinent der verzweifelten, hoffenden Auswanderer war. Und so sitzen wir wieder mit Jakob im Kornfeld, lassen den Blick schweifen, gehen im Geiste auf Reisen – und finden uns doch im Hunsrück, im vermaledeiten, ärmlichen, tristen, geschundenen Deutschland des 19. Jahrhunderts wieder.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.