■ Filmgeschichten: Ein Schwenk aus Bremerhaven
Da fahren sie dahin, in das ungewisse Schicksal, das auf Soldaten nun mal wartet. Aus Sachsen waren sie gekommen, nach China sollte es gehen, gegen die aufständischen Mitglieder des Geheimbundes der sogenannten Boxer. Von Bremerhaven aus zog die deutsche Kolonialmacht in den Krieg.
Mit zur Stelle war der junge Kamerapionier Guido Seeber aus Chemnitz. Zusammen mit seinem Vater hatte Seeber 1897 einen Kinematograph erstanden, mit dem sie in Sachsen von Ort zu Ort tingelten. Mit der Kamera filmten sie Luftschiffe, Kaisers Geburtstagsparade und Trambahnfahrten.
Die Bilder hatten zwar schon gelernt zu laufen, die Kameramänner aber noch lange nicht bemerkt, daß der Apparat auch zu verrücken und zu bewegen war. Aber der 21jährige Seeber war experimentierfreudig. „Fläisch gän–we mo de Gommera ve–rügge?“, dachte sich der findige Sachse in Bremerhaven. Erst filmte er das auslaufbereite Schiff mit seinen Landsleuten an Bord vom Kai aus. Dann war es soweit, der Dampfer legte ab und fuhr los, drohte aus dem starren Bildausschnitt zu verschwinden. Mitten im Kurbeln hat Seeber die Kamera herumgerissen und die Bewegung zumindest ruckartig festgehalten. Der erste Schwenk in der deutschen Filmgeschichte war entstanden.
Ob es wirklich der einzige war, läßt sich heute nur schwer beurteilen. Von allen produzierten Filmen der deutschen Stummfilmzeit sind heutzutage noch rund 30 Prozent erhalten. „Die Kameras waren mit knapp fünf Kilo Gewicht erstaunlich leicht“, sagt Roman Franke vom Filmmuseum München. Nur gut abgelagertes Holz sei verwendet worden für die „Schuhschachtel großen Kameras“ der Jahrhundertwende. Insofern sei es nur schwer vorstellbar, daß niemand vor Seeber auf die Idee mit dem Ruck gekommen war. Dieser jedoch revolutionierte die Filmästhetik weiter. Schon Mitte der 20er Jahre galt Guido Seeber als Altmeister des Films: Als Kameramann machte er Asta Nielsen zum Weltstar, initiierte den Bau der Ateliers in Neubabelsberg und probierte alle möglichen Bewegungen der Kamera aus, die für ihn „wie ein Instrument zu spielen“ war. Guido Seeber spielte sie virtuos. ufo
Am 11.3., 20 Uhr, im Rahmen des Filmfests im Kino 46
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