Filmfestspiele in Cannes: Liberté und Selbstschutz
Überraschungen gibt es in Cannes eher in den Nebenprogrammen. Etwa Bruno Dumonts Jeanne D'Arc, die mit viel Humor inszeniert ist
Chinas Filmindustrie steckt in Schwierigkeiten. Die verschärften Zensurbedingungen führten im Frühjahr bei der Berlinale mutmaßlich dazu, dass Zhang Yimous Wettbewerbsfilm „One Second“ nicht wie geplant gezeigt werden durfte. Doch auch die Finanzierung wird für Filmemacher schwieriger. Die Förderung setzt in China aktuell vor allem auf internationale Blockbuster, was kleinere Produktionsfirmen zu bedrohen beginnt, wie das Branchenblatt Screen zu Beginn des Filmfestivals von Cannes berichtete.
Dass Diao Yinan für seinen Film „Wild Goose Lake“, mit dem er im Wettbewerb von Cannes ordnungsgemäß antreten durfte, einen eher stilbetonten Noir-Thriller als Genre gewählt hat, könnte mit diesen veränderten Bedingungen zu tun haben. 2014 hatte der chinesische Filmemacher bei der Berlinale mit „Feuerlicht am helllichten Tage“ den Goldenen Bären gewonnen, einem harten Gesellschaftsporträt seines Landes, ebenfalls im Thrillerformat.
In „Wild Goose Lake“ rückt Yinan die gesellschaftlichen Aspekte stärker in den Hintergrund zugunsten einer klassischen Verfolgungsjagd. Der Gangsterboss Zhou Zenong (Hu Ge) ist auf der Flucht, nachdem er irrtümlich zwei Polizisten erschossen hat. Auf ihn ist ein hohes Kopfgeld ausgesetzt worden. Eine mysteriöse androgyne Frau (Gwei Lun Mei) hilft ihm, sich zu verstecken.
In immer neuen virtuosen Einfällen inszeniert Yinan das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Zhou Zenong und der Polizei, etwa mit einem nächtlichen Polizeieinsatz im Zoo, bei dem die schweißnassen Gesichter der Polizisten mit allerlei brüllenden Tieren in Käfigen gegengeschnitten werden. Oder er lässt Menschen wie in einem Schattenspiel an Zeltwänden vorbeischleichen. Und ein Regenschirm wird als Stichwaffe erprobt. Mitunter erscheint das etwas selbstverliebt. Ästhetischer Rückzug als Selbstschutz?
Spektakuläre Kostümfilme
Überraschungen gibt es in Nebenprogrammen. So bietet die Reihe „Un certain regard“ zwei auf ihre Art durchaus spektakuläre Kostümfilme. Der Franzose Bruno Dumont nimmt in „Jeanne“ die Geschichte der Jeanne d’Arc zum Anlass, um über Krieg und Religionsfreiheit nachzudenken, begleitet von dem ihm eigenen seltsamen Humor. Auch die Musik trägt ihren Teil zur Komik bei. Als Jeanne in einer Szene mit ihrer Standarte dasteht und in die Sonne blinzelt, hört man plötzlich ihre Worte an Gott. Gesungen. Von einem Mann.
Über Synthesizerklänge. Christophe heißt der Musiker, den Dumont für die Filmmusik verpflichtet hat, er singt selbst. Irgendwann wird er auch optisch in Erscheinung treten, als Geistlicher, in einer der schönsten Szenen des Films. Zudem pfeift Dumont auf den Anschein von historischer Authentizität, bei ihm ist Geschichte sichtbar geschichtet.
Etwa wird Jeanne in der Ruine eines Betonbunkers aus dem Zweiten Weltkrieg gefangengehalten. Und während ihres Prozesses in Rouen zeigt Dumont immer wieder einen Altarraum, dessen Gestaltung nie und nimmer aus dem Spätmittelalter stammt, sondern aus dem Barock.
Großartig ist die junge Hauptdarstellerin Lise Leplat Prudhomme. Während sie bei der Premiere des Films auf der Bühne zu verlegen war, ein paar Worte an das Publikum zu richten, bietet sie auf der Leinwand mit trotziger Entschlossenheit dem Klerus die Stirn. Eine Gesinnungstäterin, die sich keiner Schuld bewusst ist, weil sie gar nicht weiß, was das ist.
Zwischen Berlin und Potsdam
Noch erstaunlicher geraten ist Albert Serras „Liberté“. Für die Verfilmung seines gleichnamigen Theaterstücks, das er an der Berliner Volksbühne inszeniert hatte (siehe taz vom 26. 2. 2018), steht dem katalanischen Regisseur wie bei der Theaterfassung wieder Helmut Berger als Schauspieler zur Seite. Dazu eine Reihe weiterer Darsteller, unter denen der Philosoph Alexander García Düttmann als Libertin überrascht.
In einem Wald zwischen Berlin und Potsdam treibt Serras Gesellschaft von Adligen ihr ausschweifendes Spiel, spricht über abwegiges Begehren und geht dem großenteils dann auch nach. Zum Teil sehr explizit. Über zwei Stunden lang. Das ist hart, und hinterher fragt man sich, was man da gerade eigentlich gesehen hat. Eine Frage, die bleibt, wie die Bilder von üppig kostümierten und nackten Menschen nachts im Gehölz.
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