Filmfestspiele Venedig: Jede Schweißperle zählt
Lidokino 7: Vollkörperkontakt im MMA und Schüttelekstase bei der Shaker-Sekte – das Filmfestival von Venedig biegt allmählich auf die Zielgerade ein.
Manche Dinge werden für Schauspieler zum Glück einfacher. Früher mussten Stars sich für bestimmte Rollen echte körperliche Gewalt antun, sich mager hungern, mit Muskeltraining aufpumpen oder schlicht einige Kilos zulegen.
Heute können Maske und Computeranimation diese Dinge oft lebensecht übernehmen. Daher ist es sehr beruhigend, wenn man im Abspann zu Benny Safdies Film „The Smashing Machine“ liest, dass der Hauptdarsteller Dwayne Johnson für seinen Part mit Körperprothesen ausgestattet wurde. Denn seine Figur, der Mixed-Martial-Arts-Pionier Mark Kerr, ist mit beachtlichen Paketen an Muskelmasse bewehrt.
„The Smashing Machine“, bei den Filmfestspielen von Venedig im Wettbewerb zu sehen, erzählt aus dem Leben des Ringers Mark Kerr, der in den Neunzigern zu den ersten Sportlern gehörte, die den Vollkontaktsport Mixed Martial Arts (MMA) groß machten. Und „groß“ kann man dabei wörtlich nehmen. In den Ring treten Hünen, die keine Scheu haben, Gegnern ins Gesicht zu schlagen oder die Knie auf den Kopf zu rammen. Wer Boxkampf nicht schätzt, wird an so etwas kaum Gefallen finden.
Gefühl der Niederlage
Safdie schildert die kurze Periode von 1997 bis 2000, in der Kerrs Karriere ihn zunächst von Sieg zu Sieg führt. In einem Interview spricht er darüber, wie er seine Gegner „liest“, um ihre Absichten zu antizipieren und auf diese im Zweifel noch aggressiver zu antworten. Dafür müsse man seine Gefühle ganz genau kontrollieren können. Doch als er zum ersten Mal einen Kampf verliert, kann er das Gefühl der Niederlage gerade nicht beherrschen.
Kerr entwickelt eine Opioid-Abhängigkeit, tyrannisiert zu Hause seine Freundin (Emily Blunt) und demonstriert so im Privaten, dass es bei der Kontrolle seiner Gefühle für ihn durchaus Grenzen gibt. Dwayne Johnson verleiht diesem kindsköpfigen Menschenwerfer eine geladene Unberechenbarkeit, sodass man vor ihm stets in Deckung gehen möchte.
Zwar mag der Stoff in seiner Dramatik aus ähnlichen Sportlerfilmen vertraut sein, doch Safdie macht daraus eine durch und durch körperliche Angelegenheit, nicht zuletzt auch über fragwürdige Bilder von Männlichkeit, in der jeder Schweißtropfen so zur Geltung kommt, dass man mitzuschwitzen meint. Auch bei der Filmmusik beweist Safdie gutes Gespür, diesmal kommt der nuancierte Soundtrack von der Jazzharfenistin Nala Sinephro.
Religiöse Ekstase als Musical
Einen weiteren Auftritt als Filmkomponist, nach Gianfranco Rosis „Sotto le nuvole“, hat Daniel Blumberg in dem ebenfalls im Wettbewerb gezeigten Musicaldrama „The Testament of Ann Lee“ von Mona Fastvold. Hier wird sehr viel gesungen, getanzt und sich in religiöser Ekstase geschüttelt. Oft arrangiert Fastvold ihre Szenen als Wimmelbilder, in denen sich so viele Körper fließend durch den Raum bewegen, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten.
Dabei ist die Geschichte, die Fastvold nach dem realen Vorbild der Gründerin der Freikirche der Shaker als Sing-und-Hüpfspiel inszeniert, halbwegs klar. Die junge Ann Lee entwickelt schon als Kind in Manchester starke religiöse Gefühle und findet bald zu den Quakern, aus denen die Shaker hervorgehen, als deren „Mutter“ sie mit ihren Anhängern 1774 in die USA auswandert, wo sie sich mehr Offenheit für ihre Visionen erhoffen – und für eine Frau als Oberhaupt einer Kirche.
Man könnte in diesem Kostümfilm, in dem regelmäßig Gotteslobe angestimmt werden, einen eigenwilligen Zugang zum Aufschwung evangelikaler Bewegungen in den USA sehen. Und fanatisch sind Ann Lee und ihre Anhänger, die Sexualität als Sünde ablehnen und daher ein freiwilliges Zölibat propagieren, allemal. Fastvold hingegen hält die Dinge durchgehend ambivalent, fällt kein Urteil über die Begeisterten, sondern bewundert gar, wie es scheint, ihre Hingabe. Ob der Film einst in einem Zug mit „Jesus Christ Superstar“ genannt werden wird?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Herbst der Reformen
Wenn jemand immer wieder Nein sagt
Wieder Nullrunde beim Bürgergeld
Und die SPD knickt wieder ein
Klimaaktivistin über langen Atem
„In diesem Sinn bin ich wohl eine Staatsfeindin“
Shanghaier Organisation für Kooperation
Autoritäre Internationale trifft sich in China
Gesetzliche Rente
Finanzierbarkeit ist politisch, nicht neutral
Ukrainischer Historiker über Selenskyj
„Die Ukraine kauft Zeit für Europa“