Filmfestival Berlinale: Lust auf neue Wege
Die 60. Internationalen Filmfestspiele Berlin ermöglichen trotz unübersichtlicher Reiserouten erhellende Begegnungen mit dem Fremden.
Werner Herzog ist ein weitgereister Mann. Im Spätherbst 1974 wanderte er zu Fuß von München nach Paris. Als er Anfang der 80er-Jahre "Fitzcarraldo" drehte, ließ er einen Dampfer über einen Berg im Amazonas-Urwald wuchten. In Alaska bewegte er sich auf den Spuren eines radikalen Tierschützers, der viele Sommer unter Grizzly-Bären verbracht hatte, bevor ihn ein Bär angriff und tötete.
"Encounters at the End of the World", sein jüngster Dokumentarfilm - wie immer bei Herzog von der Fiktion durchdrungen -, führt ihn an den Südpol, wo er sich von Gletscher- und Vulkanforschern die Naturgewalten erklären lässt und mit Tauchern die Wasserwelt unter der Eisdecke erkundet. Der Drang dieser Männer und Frauen, die ihnen unbekannte Welt zu erforschen, überwiegt alle Widrigkeiten.
Auch ein Pinguin spielt in "Encounters at the End of the World" eine Rolle: Er löst sich von seinem Schwarm, stapft Richtung Süden, geradewegs hinein in die eisige Ödnis, am Ende seines Marschs wartet der Tod auf ihn. Warum tut er das bloß, fragt Herzog in seinem kantigen Englisch aus dem Off, warum nur?
Vielleicht weil er wie die Forscher, wie der Tierschützer, wie Fitzcarraldo und wie Herzog selbst einen Drang in sich verspürt, die anderen hinter sich zu lassen und neue, bisher unbegangene Wege einzuschlagen, koste es, was es wolle.
Damit schenkt uns dieser sture kleine Vogel, von dem der Jurypräsident der diesjährigen Berlinale in "Encounters at the End of the World" so anrührend berichtet, einen Kompass für das heute beginnende Festival. So sehr sich die Berlinale zwischen Kunst und Event spreizt, so unübersichtlich sie in ihrer programmatischen Vielfalt ist: Sie hat doch einen entscheidenden Vorteil, eine Menge Begegnungen mit dem Unbekannten zu ermöglichen, nicht nur am Ende der Welt, sondern auch ein paar Straßenzüge weiter. Die Widrigkeiten der Reise entfallen, der Kinosessel ist alles, was es braucht. Dass diese Bequemlichkeit nicht im Sinne Werner Herzogs ist - geschenkt.
Beginnen lässt sich die Reise mit einem Blick in die Augen von Nénette. Faltige Haut umgibt diese Augen, rote Haaren fallen in sie hinein, das Weiße ist bräunlich eingetrübt. Nénette ist eine 40 Jahre alte Orang-Utan-Dame und die Protagonistin in Nicolas Philiberts gleichnamigen Forums-Beitrag. Der französische Regisseur filmt sie und ihre jüngeren Verwandten in ihrem Glaskäfig und ihrem Freigehege im Pariser Jardin des Plantes; die Zoobesucher und Pfleger sind allein über ihre Stimmen und manchmal über eine Spiegelung im Glas gegenwärtig. Die Stimme eines Kindes sagt, was man, schaut man Nénette in die Augen, zu denken nicht vermeiden kann: "Sie sieht so seltsam wie ein Mensch aus." Das tut sie - und bleibt dabei doch vollkommen undurchdringlich. Philiberts Film stößt immer wieder auf die Frage, wie sich der Mensch zu seinen nächsten Verwandten verhält (er vernichtet ihren Lebensraum, sperrt sie im Zoo ein und blickt sie dann voller Projektionen und Fantasien an), und gibt uns zugleich ein Rätsel auf: Wie kann, was so vertraut erscheint, so fremd bleiben?
Manchmal sind es nur ein paar U-Bahn-Stationen, die man zurücklegen muss, um auf etwas zu stoßen, was man sich normalerweise nicht aus der Nähe ansieht. Der Dokumentarfilm "Neukölln Unlimited" etwa, den Agostini Imondi und Dietmar Ratsch gedreht haben und der in der Sektion Generation 14plus gezeigt wird, schaut sich in Berlin-Neukölln um. Im Mittelpunkt steht die Familie Akkouch. Sie stammt aus dem Libanon; die Kinder sind in Berlin zur Welt gekommen, trotzdem ist der Aufenthaltsstatus prekär: Nur Hassan, der Abiturient, und Lial, die Auszubildende, haben Aufenthaltsgenehmigungen, die Mutter und die jüngeren Geschwister sind geduldet, der Vater ist abwesend, eine Leerstelle im Film. Vor ein paar Jahren sind sie schon einmal abgeschoben worden, erzählt wird davon in animierten Sequenzen, aus dem Off erklärt Hassan, wie traumatisierend diese Erfahrung war. Wie es die Akkouchs zurück nach Berlin geschafft haben, bleibt offen - noch eine Leerstelle.
Dafür arbeitet "Neukölln Unlimited" umso detaillierter hervor, wie sehr die Unsicherheit und die Geldnot auf den Akkouchs lasten. Lial und Hassan scheinen stark genug, um sich durchzuschlagen. Sie wollen ihren Platz in der bundesdeutschen Gesellschaft, egal ob sie bereit ist, ihnen diesen Platz einzuräumen. Der jüngere Maradona hat größere Schwierigkeiten, er geht unregelmäßig zur Schule, trägt einen Schlagring mit sich herum und einmal auch eine Pistole. Nur beim Breakdance findet er zu sich; an seinen Performances und an denen seines Bruders Hassan weidet sich der Film immer wieder, er schwelgt in der Kunstfertigkeit und in der Energie, die die Teenager an den Tag legen. "Neukölln Unlimited" ist wie eine Gegenrede zu Thilo Sarrazin: Wie sollen Leute wie die Akkouchs sich in den deutschen Alltag integrieren, wenn ihnen eine Tür nach der anderen vor der Nase zugeschlagen wird? Und wieso ist die Mehrheitsgesellschaft, wieso sind die Behörden und die Politiker so blöd, ihre gewaltigen Anstrengungen nicht wahrzunehmen?
Wie junge Muslime in Berlin leben, verhandelt auch der Wettbewerbsbeitrag "Shahada", das Debüt von Burhan Qurbadi. Qurbadi kam 1980 in der Nähe von Köln zur Welt; seine Eltern waren im Vorjahr aus Afghanistan emigriert, er ist Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. "Shahada" ist ein Episodenfilm, der die Wege von drei Figuren nachzeichnet, Kreuzungspunkt ist eine Moschee. Auch die 1972 in Wien geborene Feo Aladag erzählt von einer jungen Muslima in Berlin; ihr Regiedebüt "Die Fremde" läuft im Panorama und handelt davon, wie die junge, von Sibel Kekilli gespielte Frau ihren Ehemann in Istanbul verlässt, bei ihrer in Berlin-Kreuzberg lebenden Familie Unterstützung sucht, aber mit ihrem Verhalten die rigiden Moral- und Ehrvorstellungen angreift. Aladags Film bewegt sich also mitten hinein in eine der größten Reizzonen, die die gesellschaftliche Debatte gegenwärtig kennt: Frauenrechte und Islam. Alice Schwarzer schickt ihm lobende Worte voraus, was die Hoffnung auf eine differenzierte Auseinandersetzung dann doch ein wenig eintrübt.
Umso besser, dass der US-amerikanischen Regisseurin Laura Poitras an Differenzierung liegt. In ihrem Forums-Beitrag "The Oath" stellt sie Abu Jandal vor, einen Mann aus Jemen, der enger Mitarbeiter Ussama Bin Ladens in Afghanistan war. Ein Zufall wollte es, dass er noch vor den Attentaten des 11. September in Jemen inhaftiert wurde. Dank eines Aussteigerprogramms lebt er heute auf freiem Fuß; als Taxifahrer hält er sich notdürftig über Wasser. Von der Gewalt hat er sich losgesagt, in einer Szene erzählt er glaubwürdig, wie sehr ihn der 11. September schockiert habe. Vom Glauben an die Überlegenheit des Islam freilich hat er sich nicht gelöst - er spricht abschätzig von den Ungläubigen und predigt einen Dschihad ohne Attentate und Bomben. Poitras scheut die Nähe zu ihrem charismatischen Protagonisten nicht. Seine Ambivalenzen treten dadurch klar zutage. Indem die Regisseurin auf vorgefasste Urteile verzichtet, gewährt sie Einblicke in die Denkweisen eines Menschen, von dem man normalerweise nichts weiß - außer, dass er "der Feind" ist.
Von "The Oath" schließlich führt ein schmaler Pfad zu "Der Tag des Spatzen", dem Forums-Beitrag des Berliner Filmemachers Philip Scheffner. Scheffner reist weder in den Jemen noch nach Afghanistan, dennoch hat sein Film viel mit den Fragen zu tun, die Poitras aufwirft. Er erkundet die Kehrseite zu Jandal, also unsere Rolle im sogenannten Krieg gegen den Terror. Dazu fährt er zum Beispiel an die Mosel. Die Mittelgebirgslandschaft wirkte idyllisch, die Dörfer aufgeräumt, wären da nicht die Flugzeuge der Bundeswehr, die in regelmäßigen Abständen durch Täler und über Weinberge jagen. Aus dem Off wird erklärt: Die Schluchten, die der Fluss in die Landschaft schneidet, ähneln der zerklüfteten Landschaft in Afghanistan. Die Bundeswehr übt an der Mosel für den Auslandseinsatz. Scheffner bringt eine Militarisierung zum Vorschein, die für gewöhnlich verborgen bleibt. Und er umkreist hartnäckig die Frage, ob Deutschland Krieg führt, ohne sich auf eine Antwort festzulegen. Was ihm in "Der Tag des Spatzen" gelingt, ist eine Menge: Man blickt auf die vertrauten Landschaften und sieht darin etwas Fremdes, nämlich den Krieg, in einer sehr greifbaren, konkreten Gestalt. Und mehr noch: Man wird sich der schmerzhaften Dialektik bewusst, dass das Fremde zu einem selbst gehört.
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