: Filmen unter dem Joch der Freiheit
■ Wo die Uhr anders tickt: Die russische Filmwoche im Kino 46 ermöglicht Einblicke in real existierende Verzweiflung, aber auch in eine spannende Ästhetik jenseits Hollywood
Stets aufs Neue ist es verwunderlich, wie schief der Westen die Vorgänge in den ehemaligen Sowjetstaaten einzuordnen gewillt ist. Da verfallen weite Teile der Bevölkerung der Verelendung. Das Gift kollektiver Hoffnungslosigkeit nistet sich in den Köpfen ein. Politik und Wirtschaft verkommen zu Subbranchen des Verbrechens. Und der Westen beißt sich hartnäckig fest am Schöndenken: Im Grunde ist alles gut, solange die Formalia des Wählens beachtet werden. Wirtschaftliches Desaster, Bürgerkrieg, neuer Antisemitismus usw: Alles nur Peanuts, Übergangserscheinungen. Ein gemeingefährlicher Blödsinn, der nur durch genauen Blick auf Details entschärft werden kann.
Das leisten Filme aus Rußland, das leistete eine Podiumsdiskussion zur Situation des Kinos in Rußland kurz vor Gorbatschows Auftritt im Kongreßzentrum.
Hans-Joachim Schlegel, Mitverantwortlicher für die Programmauswahl der Berlinale und ausgewiesener Kenner der russischen Filmlandschaft, skizzierte den Stand der Dinge: „80 Prozent der russischen Filmindustrie liegt in amerikanischen Händen. Und auch der Anteil der US-Filme am russischen Markt beträgt 80 Prozent. Es handelt sich um Filme der B- und C-Klasse: Eine importierte Gewaltwelle überrollt das russische Kino. Zu Beginn der Perestroika fungierte die Filmindustrie als Waschanlage für schmutziges Geld. Dannach wurden Kinos in Wasch- und Autosalons umgewandelt.“
Diese Diskrepanz zwischen formaler, demokratischer Freiheit und realisierter, konkreter Freiheit war denn auch das Grundthema der Debatte. Düstere Szenarien also, seit langem bekannt.
Und dennoch brachte die Podiumsdiskussion Überraschendes zutage. Schlegel bedauerte das Aussterben des anspruchsvollen russischen Films; Elem Klimov, wohl der berühmteste lebende russische Regisseur, untermauerte die Aussage mit Zahlen: „Entstanden in der früheren Sowjetunion pro Jahr etwa 50 außergewöhnliche Filme, so dürfen wir heute froh sein über zwei oder drei.“Aber Regisseur Karen Schachnasarow, ein durch und durch desillusionierter, verbitterter, also sympathisch-korrekter Mensch, behauptet dreist-provokativ: All das, was der Westen sich auf Festivals unter dem Logo „anspruchsvolles russisches Kino“genußvoll reingezogen habe, sei ein Kunstprodukt, ein Fake, speziell konzipiert für den westlichen Festivalmarkt. Produzent Anatoli Woropajew legt nach: Einen Film wie „Mutter und Sohn“, für die documenta X produziert, könne er sich bei allem guten Willen nicht bis zu Ende anschauen. Auch Klimow bricht Schlegels einfache Sichtweise: Im Grunde handle es sich um kein russisches Problem, sondern um eine weltweite Krise des anspruchsvollen Kinos.
Und schon bröckelt die Vorstellung von dem russischen Kino in der Krise. Unterschiedliche Zukunftskonzepte existieren, allesamt unterwandert von gebührendem Zynismus und Desillusionierung. Woropajew meint – sich ein schalkiges Grinsen abringend – Geld stinke nicht, ihm sei es egal, wo der Zaster herkäme.
Wie bei jeder anständigen Podiumsdiskussion stand auch hier am Ende der Eindruck der Komplexität und Unüberschaubarkeit. Alles beredet, nichts geklärt.
Und trotzdem, trotz aller Relativierungen des russischen Minderheiten-Festival-Fake-Films: Der osteuropäische Film war/ist/bleibt für den westlichen Betrachter eine Offenbarung – gelegentlich. Sein ruhigeres Timing, seine assoziativere, in Nebensächlichkeiten verguckte Bildsprache, sein Interesse an Themen jenseits von Sex & Crime zeigt, daß das real existierende westliche Kino keineswegs das beste aller möglichen Kinos ist.
Zum Beispiel das Timing: Kira Muratowa bewältigt in der zweiten ihrer „drei Geschichten“ein paar Morde. Sie gehen zügig vonstatten, als wärs Nebensache. Das Umtänzeln von Opfer und Täter dagegen geschieht seltsam zeitlupenhaft, poetisch, freundlich, geduldig. Die dritte Geschichte gar zeigt, unbeeindruckt von jedem Zwang zur Spannung, einen alten Mann mit seiner Enkelin, fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Davor eine Katze, die mühsam an ihrem erlegten Opfer schleppt: Widerlich, schaurig, vielfach deutbar. Das russische Kino kennt einen variantenreichen Umgang mit dem Faktor Zeit. Zeit will nicht mit möglichst viel Erregung zugestopft werden. Jenseits der Geschichten schweift die Kamera „sinnlos“in Landschaftprospekte ab, gräbt sich in Gesichter ein, springt assoziativ zu einer Lampe, einem Bild an der Wand ...
Aber auch die Beschäftigung mit Geschichte erfolgt jenseits platten Erzählkinos.
Viele der Filme, die während oder nach der Perestroika entstanden, schließen direkt an die verbotenen „Tresorfilme“der 60er Jahre an. Sie rennen gegen dieselben Tabus an. Der Film „Das große Konzert der Völker“wirkt etwa wie eine Ergänzung von Askoldows „Die Kommissarin“. Auch er dokumentiert die Verfolgung der jüdischen Sowjetbürger. Mit seinem genau in der Zeit der Umwandlung gedrehten Film, der diesem die kuriose Einordnung „Rußland/UdSSR 1991“einbrachte, versuchte der Regisseur Semjon Aranowitsch nichts weniger zu schaffen als eine russische Version von Claude Lanzmanns „Shoah“. Ohne eigenen Kommentar, nur unterbrochen von historischen Wochenschauen und Filmausschnitten, läßt er überlebende Zeitzeugen von der systematischen Verfolgung ihrer jüdischen Verwandten und Freunde erzählen. „Dannach sahen wir ihn niemals wieder“, ist das furchtbare Leitmotiv in den Aussagen der heute meist in Israel lebenden Erzähler. Aranowitsch gibt ihnen viel Raum für Details, sowohl in der Beschreibung der Verfolgten wie auch der Verfolgungsmechanismen. Hier genau zu erzählen und das Erinnerte so in Ehren zu halten und aufzubewahren, ist ihm dabei wichtiger als Rücksichten auf die Sehgewohnheiten des Publikums.
Ein weiteres Tabu der kommunistischen Herrschaft war die Ermordung der Zarenfamilie im Jahr 1918. In seinem Film „Der Zarenmörder“behandelt Karen Schanasarow dieses Thema auf einem abenteuerlichen Umweg: Ein schizophrener Patient in einer psychiatrischen Klinik im Moskau von heute glaubt, der Mörder des Zaren Nikolaus II zu sein. Als sein Arzt als Therapie in einem Rollenspiel beginnt, den Zaren zu verkörpern, scheinen die beiden zu diesen historischen Persönlichkeiten zu werden. Und sie spiegeln in ihrem Wahn die damaligen Vorkommnisse so wahrheitsgetreu, wie es Schachnasarow nach langen Recherchen nur möglich war.
Eine andere Art der Vergangenheitsbewältigung leistet Gleb Teleschow in seinem Film „Sabs“. Er bedient sich mit einer ansteckenden Begeisterung bei der Ikonographie der westlichen Jugendkultur der 50er Jahre. Jeans, Saxophon, Zigarette, Plattenspieler und seltsamerweise als einziges Auto eine „Ente“, verklärt er in stimmungsvollen Schwarzweißbildern, die mit ihren elegant, melancholisch stilisierten Jugendlichen sehr an Bruce Webers Filme wie „Let's Get Lost“erinnern. Bei diesem Versuch, ein zugleich nostalgisches und utopisches Stimmungsbild zu zeichnen, verzichtet Teleschow völlig auf eine Geschichte: Ihm reichen die verführerisch schönen Traumbilder davon, wie russische Beatniks wohl in den 50er Jahren ausgesehen hätten, wenn James Dean und Duke Ellington nicht als westlich dekandent verboten gewesen wären. Mit einer Engelsgeduld untersucht er die graphische Wirkung von Lichtern in der Großstadt bei Nacht oder von den Spielen der Schatten auf nackter Wand. Eine Geduld, die wir gut brauchen können, nicht statt Speed 1 und Speed 2, aber daneben. Wilfried Hippen/Barbara Kern
Filmfest bis 8.10. im Kino 46
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