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Filmemacher über Dokumentarfilm„Ihr ganzes Leben ist eine Werkstatt“

In der „Hauptstadt der Jeans“ in Brasilien arbeiten die Menschen als Sklaven ihrer selbst. Marcelo Gomes porträtiert sie in seiner Doku.

Mag Menschen: der brasilianische Filmemacher Marcelo Gomes Foto: Sebastian Wells
Eva-Christina Meier
Interview von Eva-Christina Meier

taz: Marcelo Gomes, mit „Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar“ (Waiting for Carneval) sind Sie zum dritten Mal mit einem Beitrag auf der Berlinale vertreten. 2017 präsentierten Sie ihren historischen Spielfilm „Joaquim“ im Wettbewerb. Ihr aktueller Dokumentarfilm führt nun nach Toritama, in die „Hauptstadt der Jeans“ im Nordosten Brasiliens. Gibt es eine Verbindung zwischen diesen so unterschiedlichen Formaten?

Marcelo Gomes: Ich mag es als Filmemacher, unterschiedliche Wege zu beschreiten. Alle meine Filme sind verschieden, gleichzeitig haben sie aber auch etwas gemeinsam – ich mag Menschen und in den fiktionalen Filmen verfolge ich ihre Entwicklung.

Das Städtchen Toritama im Nordosten Brasiliens lernten Sie als Kind in den siebziger Jahren kennen. Was verbinden Sie mit dieser Gegend?

Weil ich das jüngste von sechs Kindern war und meiner Mutter immer viel Arbeit machte, begleitete ich meinen Vater regelmäßig auf seinen Dienstreisen von Recife in die Region Agreste im Inneren des Bundesstaats Pernambuco. Diese ersten Reisen haben mich als Kind stark beeindruckt. Das war eine komplett neue Welt für mich. Die Leute wohnten abgeschieden, weit voneinander entfernt. Sie waren ärmer und lebten traditioneller, aber begegneten mir mit großer Herzlichkeit. Anders als an der Küste, ist die Landschaft sehr trocken.

Und wie entstand die Idee zu dem Dokumentarfilm?

Nach vielen Jahren machte ich auf dem Weg zu einem Filmfestival in der Nähe wieder in Toritama Halt. Dort hörte ich diese Geschichte vom Karneval, die mich sofort begeisterte.

Die Kleinstadt ist vor allem für ihre Jeansproduktion bekannt. 20 Millionen Stück von dem „blauen Gold“ werden dort jährlich hergestellt. Was ist das Besondere an diesem Ort?

Sebastian Wells
Im Interview: Marcelo Gomes

ist Regisseur und Drehbuchautor. Der 1963 geborene Brasilianer lebt in Recife. 2007 war er Gast des DAAD-Künstler­programms in Berlin und entwickelte dort das Drehbuch zu „O Homem das Multidões“ (A Man in the Crowd), einem Spielfilm, der 2014 auf der Berlinale im Panorama Premiere hatte. 2017 wurde sein Spielfilm „Joaquim“ über den brasilianischen Freiheitskämpfer Joaquim Tiradentes im Programm des Wettbewerbs präsentiert.

Es gibt sicher viele Dokumentarfilme über Sweatshops in China oder Indien. Aber in Toritama gibt es einen Karneval und das ist etwas ganz Großes in Brasilien. Ein einziges Mal jedes Jahr werden die Regeln des Neoliberalismus übertreten. Und du sagst dir, ganz egal, ich verkaufe alles und geh da hin. Danach fängst du wieder von neuem an zu arbeiten und Kapital zu akkumulieren. Aber wenigstens hast du etwas nur für dich selbst gemacht.

Die Gegend war immer sehr arm. Wenn es Arbeit gab, waren die Leute bereit, sich selbst auszubeuten. Das machen sie heute auf so radikale Weise, dass sie sich selbst versklaven. Sie sind begeistert davon, ihr eigener Chef zu sein, ein selbstständiger Arbeiter. Aber das ist eine Lüge, sie arbeiten als Sklaven ihrer selbst.

Anders als in der Textilindustrie in China oder Bangladesch findet die Produktion nicht in großen Fabriken, sondern in sogenannten „Factions“ statt – umgebauten Hühnerställen, ehemaligen Garagen und in Wohnungen.

Ihr Esszimmer, ihre Küche, ihr ganzes Leben ist eine Werkstatt. Auf die ein oder andere Weise repräsentiert dieser Mikrokosmos eine Welt, in der wir in der Falle der Selbstversklavung sitzen. Dank Internet und WhatsApp gehst du nicht mehr von neun bis fünf in eine Fabrik. Nein, du arbeitest von neun bis neun und die E-Mails beantwortest du samstags und sonntags.

Wie sind Sie mit den Bewohnern in Toritama ins Gespräch gekommen?

Als ich mit meinem Team ankam, fragten mich die Leute, „woher kommst du?“ Ich antwortete: „Meine Familie stammt aus San Cae­tano, hier in der Nähe.“ Das kannten sie und hörten meinen ähnlichen Akzent. Vielleicht klappte die Annäherung dadurch einfacher und sie fassten Vertrauen zu mir. Ich wollte auch keine denunzierende Dokumentation machen – „schaut her wie schrecklich ist diese Arbeit.“ Ich wollte die Menschen dahinter zeigen, ihre Träume und Wünsche im Leben.

Einer von ihnen ist Leo, der sich seine ganz eigenen Gedanken über die Arbeit und den Kapitalismus macht.

Toritama ist anachronistisch und Leo ist ein Schelm und eine Art Prophet dieser widersprüchlichen Welt. Die Interviews, die wir mit ihm während der Arbeit inmitten all der anderen arbeitenden Personen führten, zeugen von großer Intimität. Und als dann der Zeitpunkt kam, den Karneval zu filmen, dachte ich, es wäre sehr viel schöner, ihm und seiner Familie eine Videokamera mitzugeben, um diese freie Zeit mit ähnlicher Vertrautheit festhalten zu können. Sie waren damit einverstanden.

Der Karneval ist der einzige Moment in Toritama, an dem die Nähmaschinen stillstehen. Der ganze Ort scheint für die Feiertage ans Meer aufzubrechen. Trotzdem reicht für viele das Geld am Ende nicht, um diese Tage am Strand verbringen zu können, und so verkaufen sie ihre Kühlschränke, Motorräder oder Fernseher.

Noch mehr beeindruckte mich, festzustellen, wie schwierig es war, jemanden zu finden, der bereit war, darüber zu sprechen. Du verkaufst vielleicht dein Sofa oder deinen Kühlschrank, aber du sagst niemandem, dass es für den Karneval ist. Denn dann hättest du versagt.

Wenn man im Internet nach Jeans aus Toritama sucht, stellt man fest, dass nur wenige Produzenten eine eigene Website unterhalten und kaum jemand von ihnen einen Vertrieb anbietet. An welche Kundschaft wird die Ware verkauft?

Im Vergleich zum Südwesten ist der Nordosten Brasiliens immer schon ärmer gewesen. Hier produziert man zu günstigeren Preisen, vielleicht mit etwas niedrigerer Qualität. Die Leute, die in den Ortschaften im Nordosten kleine Läden betreiben, kaufen dafür in Toritama ein. Etwas hochwertigere Jeans werden inzwischen auch nach Afrika, Portugal und Spanien exportiert. Aber ursprünglich wurde die Ware ausschließlich für den Verkauf in den Läden der Region hergestellt. Und der Markt am Sonntag lebt hauptsächlich von diesen Leuten. Der Nordosten Brasiliens hat immerhin 40 Millionen Einwohner.

Auffällig am Sortiment ist die ganz eigene Vorstellung von Mode.

Sie produzieren Sachen, wie etwa diesen Rock für die evangelikale Frau. Für die Hersteller ist es wie in einer Lotterie. Wenn ein Entwurf sich nicht verkauft, ist das Geschäft kaputt und die Fabrik pleite. Ein ständiges Auf und Ab.

Gibt es denn so etwas wie evangelikale Mode?

In Toritama gibt es circa zwölf evangelikale Kirchen, auch der Bürgermeister ist ein Evangelikaler. Die Pfingstgemeinden sind in Brasilien zu einer mächtigen Lobby geworden, die starken Einfluss auf die Wahl des neuen Präsidenten genommen haben.

Was erwarten Sie als Filmemacher und Kulturschaffender von der neuen Regierung Bolsonaros?

Jair Bolsonaro ist erst seit Kurzem im Amt und ich bin kein Hellseher mit einer Kristallkugel. Aber es gab in diesen wenigen Wochen schon Entscheidungen der Regierung, die anschließend durch den Druck der Medien und durch andere Faktoren zurückgenommen wurden. Ich denke, das zeigt die Unsicherheit eines Politikers, der nicht darauf vorbereitet ist, ein so komplexes Land zu regieren.

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Sie sind begeistert davon, ihr eigener Chef zu sein, ein selbstständiger Arbeiter. Aber das ist eine Lüge, sie arbeiten als Sklaven ihrer selbst.“

    Was mag Marcelo Gomes bewogen haben, sich so überheblich Menschen gegenüber zu äußern, die er angeblich liebt? Sein Entsetzen darüber vielleicht, wie mühsam sich manche ein paar Tage Karneval erarbeiten müssen in der Welt, aus der er selber stammt?

    „Sklaverei bezeichnet einen Zustand, in dem Menschen [...] als Eigentum anderer behandelt werden“, weiß das Lexikon. Verbunden mit dem Eigentum ist das „Recht, Sklaven zu erwerben, zu verkaufen, zu mieten, zu vermieten, zu verschenken und zu vererben“. Wer sein eigener Sklave ist, wäre also durchaus berechtigt zu entscheiden, ob und für welchen Preis er sich verkaufen, vermieten, verschenken oder vererben will. Und zwar unabhängig von der Vorstellung anderer. Allerdings kann man laut Definition gar nicht Sklave seiner selbst sein. Der „Witz“ an der Sklaverei ist nämlich, dass man einem FREMDEN Willen unterworfen wird.

    Vielleicht muss man als Filmemacher ja nicht denken können. Mitfühlen, allerdings, sollte man schon, finde ich. Wer seine Mitmenschen so liebt wie sich selber, der sollte ihnen also ihre Selbstbestimmung gönnen. Auch, wenn er womöglich die Motive nicht kapiert, aus denen heraus sie handeln. Es sei denn, natürlich, er sehnt sich selber wie irre nach Fremdbestimmung.

    Was für den Einzelnen unter Freiheitsberaubung oder Nötigung fällt (laut Lexikon Sklaverei im weiteren Sinne), ist ja doch ziemlich unterschiedlich. Es hängt etwa davon ab, unter welchen Umständen der Mensch aufgewachsen ist und welchen Wert er dem Ziel seiner Schufterei zumisst. Was der eine für unter seiner Würde hält, ist für den anderen völlig normal. Genau deswegen sollten Menschen keine Sklaven sein. Auch dann nicht, wenn sie „nur“ im Haushalt arbeiten und dabei nicht verprügelt werden. Nur: Wie soll das jemand verstehen, der quasi mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde?