Filmdrama um das Thema Nähe: Das Projekt der Pilotin
İlker Çatak seziert in „Es gilt das gesprochene Wort“ facettenreich das Thema Nähe. Der Filmtitel sendet auch eine Botschaft an die Protagonist*innen.
![Die beiden Protagonisten, Marion und Baran, unterhalten sich Die beiden Protagonisten, Marion und Baran, unterhalten sich](https://taz.de/picture/3587794/14/09_ES_GILT_DAS_GESPROCHENE_WORT_Copyright_X_Verleih_AG_Erik_Mosoni.jpeg)
Am Strand von Marmaris brodelt die Party. „Life is live, nanaaananana“, es wird getanzt und gebechert, füllige deutsche Touristinnen klatschen jungen türkischen Kellnern auf den Hintern, und wer’s wirklich wissen will, bekommt später Urlaubssex. Einer der Animateure ist Baran (Arman Uslu), 23 Jahre alt, gutaussehend, und auf dem Weg vom Tellerwäscher zum Casanova. Er spekuliert auf Kontakte mit Frauen, die ihn, den mittellosen, desertierten Kurden, mit nach Hause nehmen. Genauer: nach Europa.
Aber so einfach ist das nicht. Schon gar nicht mit Marion (Anne Ratte-Polle), einer Pilotin, die mit ihrem Liebhaber Raffael (Godehard Giese) eher aus Versehen in der Türkei urlaubt. Eine Brustkrebsdiagnose hat die unabhängige Mittvierzigerin vorübergehend beruflich außer Gefecht gesetzt – Raffael, der die Beziehung intensivieren will, versucht die zeitliche (und emotionale) Lücke, nämlich Marions gesundheitliche Schwäche, zu nutzen.
Doch Marion will keine feste Bindung, anstehende Operation hin oder her. Nach einem Streit mit Raffael räumt dieser das Feld. Marion begegnet Baran und entschließt sich zur Verwunderung aller, dem Fremden zu helfen – Job, Wohnung, Umzug nach Hamburg und (Schein-)Ehe inklusive.
Die Zutaten zu İlker Çataks Drama sind komplexer, als sie auf den ersten Blick scheinen. Denn weder geht es um die soziokulturell problematische Liebe zwischen einer älteren, reicheren Frau und einem jüngeren Mann. Noch um das Klischee heiße Machotürkei gegen kaltes Deutschland.
Çataks Film, dessen Drehbuch er gemeinsam mit dem Romanautor Nils Mohl schrieb, seziert stattdessen das Thema Nähe. Mit allen darin enthaltenen verwirrenden Elementen: Baran, dem Arman Uslu in seiner ersten Langfilmrolle eine natürliche, warme Sensibilität verleiht, erkennt, dass die kühle Marion so gar nicht auf seinen Charme reagiert – und kann nicht verstehen, wieso sie ihm dennoch hilft, ihn dabei aber auf Abstand hält.
Stark und unabhängig
Raffael, den Giese einfühlsam und stolz aussehen lässt, und dessen Leben als Orchestermusiker und (getrennter) Vater geordnet scheint, wirkt mit seiner konservativen Vorstellung von Nähe immer wieder deplatziert. Und Marion selbst ist die Spindoktorin ihres eigenen Images: Um Pilotin zu werden, das schwingt in dem klugen Drehbuch wortlos und situativ mit, musste sie eh garantiert einiges an Kraft aufbringen, genau wie dafür, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.
Çatak und Mohl, die bereits zum zweiten Mal zusammenarbeiten und aus Mohls Roman „Es war einmal Indianerland“ 2017 Çataks eindrucksvollen Debütfilm strickten, geben nur wenige Hinweise auf Marions Vergangenheit. Diese jedoch sitzen: die Mutter starb, der Vater schied daraufhin freiwillig aus dem Leben und ließ die (erwachsene) Tochter allein.
Marions Stärke war also schon oft gefordert. Anders gesagt: Der Panzer, den sie trägt, ist solide. Er begründet die Selbstverständlichkeit, und die verständliche Genugtuung, mit der Marion ihren Beruf als Pilotin ausübt, und mit der sie sich beim Start mit den Worten „Guten Tag meine Damen und Herren, hier spricht Ihre Kapitänin“ aus dem Flight Deck meldet. Oder, um es mit einem misogynen Gegenspieler von „Captain Marvels“ Pilotenfreundin Maria zu sagen: „Es heißt nicht umsonst ‚Cockpit‘.“
Die Wichtigkeit des „gesprochenen Wortes“
Marions Erkrankung, die als früher Handlungspunkt ihre Geschichte anschiebt, wirkt somit wie ein erster Sprung in der Schutzmauer. Und erklärt ein wenig ihre verwirrende und irgendwie auch typisch deutsche Herangehensweise: Nüchtern erklärt sie Baran und dessen Zurechtfinden in einem ihm fremden Land zu ihrem Projekt und macht ihre Pläne zu seinen.
Obwohl sie ihm von Anfang an apodiktisch erklärt, dass „seine Scheiße auf gar keinen Fall zu ihrer Scheiße“ werden dürfe. Was sie, denn das passiert nun mal, wenn sich Menschen vor dem Standesamt treffen, aber trotzdem irgendwann wird. Wenn auch an unerwarteter Stelle.
„Es gilt das gesprochene Wort“. Regie: İlker Çatak. Mit Anne Ratte-Polle, Oğulcan Arman Uslu u. a. Deutschland 2018, 120 Min.
Dass der Film Baran nachvollziehbarer zeichnet als seine weibliche Protagonistin, deren Einsamkeit teilweise arg ausgestellt wirkt, mag an einer größeren Nähe der Autoren zum Protagonisten liegen. Vielleicht ist es aber auch Absicht – eine wie Marion, das könnte man herauslesen, ist zu einzigartig für die Masse, eckt zu sehr an, und ist zu gern allein.
„Es gilt das gesprochene Wort“ bezieht sich am Ende nicht nur auf die aseptische Heiratsszene, die zu Beginn des Films Marions und Barans Weg vorwegnimmt, sondern auch auf die Entwicklung einer neuen Kommunikation: Gesprochene Worte, hoffentlich lernen das die Protagonist*innen rechtzeitig, können Wände einreißen.
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