Filmdrama „Die Zeit, die wir teilen“: Den Serpentinen zum Trotz
Isabelle Huppert begegnet im Film „Die Zeit, die wir teilen“ als gealterte Verlegerin ihrer großen Liebe neu. Über ihrem Leben schwebt ein „Trotzdem“.
Eine dunkle Straße windet sich durch eine nächtliche Landschaft, von der nur so viel zu sehen ist, wie die Scheinwerfer eines einsamen Autos freigeben. Durch die verregnete Windschutzscheibe blickt die Frau am Steuer direkt in die Kamera, stellt sich einem unbekannten Publikum mit vollem Namen vor. Joan Verra, heiße sie. Nicht Jeanne, stellt sie klar, auch nicht Joanne oder gar John, wie man sie in ihrem Leben bereits fälschlicherweise genannt habe.
Sie driftet ab, beginnt von ihren Eltern und ihrer Kennlerngeschichte zu erzählen, für die sie niemals auch nur einen materiellen Beweis gefunden habe, die Joan aber so oft gehört habe, dass sie für sie real geworden sei. „Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind“, ergänzt sie lakonisch, ehe der Film in die wohl schicksalsschwerste Begegnung ihres eigenen Lebens eintaucht. In den Siebzigern hält sie sich als Au-pair in Irland auf und lernt dort einen jungen Mann kennen, der sich als Taschendieb verdingt.
Joan, dieser Eindruck stellt sich unmittelbar ein, ist eine aparte Frau. Ist es zumindest mit dem zunehmenden Alter, unter der Last der Erfahrungen und der ständigen Herausforderung, sie zu stemmen, geworden. Gespielt wird sie mit Isabelle Huppert von einer nicht geringeren Ausnahmeerscheinung, die mit „Die Zeit, die wir teilen“ im Frühjahr auf der Berlinale vertreten war und dort mit dem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.
„Die Zeit, die wir teilen“. Regie: Laurent Larivière. Mit Isabelle Huppert, Lars Eidinger u.a. Frankreich/Deutschland/Irland 2022, 101 Min.
Die erprobte Theater- und Filmschauspielerin verleiht den Worten ihrer Figur eine gewisse Erhabenheit und bewahrt die Geschichte von Regisseur Laurent Larivière, der mit François Decodts auch das Drehbuch verfasste, vor einem Übermaß an Larmoyanz. Denn obwohl Joan ein außergewöhnliches Leben führt, bergen dessen einschneidende Momente universal Nachfühlbares und decken sich mit den klassischen Motiven des Melodrams.
Traumbilder und Trauer
Wie verblichene Traumbilder wirken die Rückblenden, die Larivière und Decodts mit schlafwandlerischer Sicherheit in nichtchronologischer Reihenfolge mit der Gegenwart zu einer entrückten Erzählung verweben, die letztlich von nichts anderem handelt als der titelgebenden geteilten Zeit und der Trauer, die ihrem Ende innewohnt. In fahlen Farben begleitet die Kamera die junge Joan (Freya Mavor), wie sie sich mit Doug (Éanna Hardwicke/Stanley Townsend) in eine typische Amour fou stürzt.
Die mündet nicht nur in einem bitteren Schlusspunkt, sondern bringt auch die Saat für eine neue Form geteilter Zeit aus. Im Jetzt besucht sie ihr erwachsener Sohn Nathan (Swann Arlaud), der mittlerweile in Montreal lebt. Überraschend taucht er in einem kleinen französischen Dorf auf, unweit des Landsitzes, zu dem sich Joan überhastet aufgemacht hat, nachdem sie zuvor in Paris ihrer alten Jugendliebe begegnet ist. Ohne zu erwähnen, dass aus ihrer Romanze ein Kind hervorgegangen ist.
Ihr Umgang mit Nathan wirkt seltsam unbeholfen. Darum, was das Verhältnis von Mutter und Sohn so nachhaltig getrübt hat, baut der Film geschickt ein Mysterium auf, dessen finale Auflösung sowohl alle anderen ihrer Beziehungen in neuem Licht erscheinen lässt als auch Joans bisweilen stoisches Auftreten erklärt.
„Nathan ist das Schönste, was mir je passiert ist“, kommentiert sie früh im Film, an einer Tankstelle wartend, rauchend. „Zu behaupten, er hätte mir das Leben gerettet, wäre falsch. Oder ihm einen Sinn gegeben hätte. Ich glaub nicht an diese Albernheiten, ich finde das idiotisch. Man weiß doch, das Leben hat keinen Sinn. Mit Nachwuchs, oder ohne.“
Ein immer wieder von Gram geprägtes Leben
Dass Zeilen wie diese im Kontext des Dramas nicht trivial wirken, liegt daran, dass sie hier keiner bloßen nihilistischen Pose entspringen. In Joans Fall scheinen sie ehrliche Essenz einer bewegten Vita zu sein, eines immer wieder von Gram geprägten Lebens. Eines, das dennoch kein fehlgeleitetes ist. Denn wie viel heilsamer ist es, einer Wahrheit ins Auge blicken und mit ihr leben zu können, als einem falschen Heilsversprechen anzuhängen?
Den Unterschied präzisiert der Film an einer weiteren Beziehung Joans, an der relativ kurzen Zeit, die sie mit der Mutter (Florence Loiret Caille) teilte. Sie endete darin, dass diese die Familie in fliegender Hast für eine Affäre verließ, ihr nach Japan folgte.
Wenn das Drama an Joan zeigt, dass mancher Traum zerschellen kann, ohne dass man dabei vom Weg abkommen muss, ist die Mutter tragisches Beispiel dafür, wie man selbst an seinen Träumen zerschellen kann.
Was Joan nach ihrer Karriere als Verlegerin trotz allem mit ihrer Gegenwart versöhnt, ist die Beziehung mit dem deutschen Autor Tim Ardenne, der sie bereits während ihrer aktiven Zeit auf grotesk-liebevolle Art umschwärmte. Lars Eidinger spielt die „geplagte Künstlerseele“ mit unnachahmlichem Wahnwitz, und wird so zum charmanten comic relief des ansonsten schwermütigen Dramas. „Die Zeit, die wir teilen“ ist ein zutiefst humaner Film, der den Serpentinen im Weg seiner Protagonistin folgt, um in einem wohltuenden „Trotzdem“ zu münden.
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