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Film „Rimini“ von Ulrich SeidlDie Oberfläche des Richie Bravo

In „Rimini“ lässt Ulrich Seidl einen Nazisohn in die Welt der Schlagermusik flüchten. Dessen sozialen Beziehungen sind eine Trümmerlandschaft.

Routiniertes Schlagerpublikum in Ulrich Seidls „Rimini“ Foto: Neue Visionen

Daheim im österreichischen Irgendwo. Im Erdgeschoss hängen im Wohnzimmer Biedermeiergemälde in Salonhängung neben einer hölzernen Schrankwand. Auf dem Flügel stehen Familienfotos. Geweihe zieren die Wand über der Treppe hinunter in den Keller. Im Keller eine kleine Bar, eine Jukebox, mehr Geweihe. Zwei Brüder im Haus der Eltern, die Mutter unlängst gestorben, der Vater im Altersheim. Die Geschichte der Familie war der Ausgangspunkt für das Filmprojekt mit dem Arbeitstitel „Böse Spiele“ des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl. Aus „Böse Spiele“ wurden zwei Filme, „Rimini“, der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, und „Sparta“, der im September auf dem Filmfestival von San Sebastián skandalumwittert und ohne Ulrich Seidl uraufgeführt wurde. „Rimini“ kommt diese Woche in die deutschen Kinos.

Das winterliche Rimini an der italienischen Adria, neblig, regnerisch und leer, bildet die Kulisse für Seidls Film. Am Strand sitzen ein paar eingemummelte Gestalten um eine Bude herum. Im Zentrum des Films steht Schlagersänger Richie Bravo (Michael Thomas). Nach dem Begräbnis der Mutter fährt Bravo in sein Haus in der Stadt am Meer, zieht seine Alltagsuniform aus Cowboystiefeln, weißen Jeans, weißem Feinripp und Robbenfellmantel an und beginnt seine unerschütterliche Routine: Aufstehen, Dosenbier, nach dem Anziehen ein paar Schlucke Weißwein aus der Flasche, ein Treffen mit einer seiner weiblichen Fans, danach ein Auftritt im Saal eines der mehr oder weniger leeren Hotels. Die Abende verbringt Bravo in einem Spielsalon oder einer Bar.

Bravo macht aus allem Geld, gibt den Witwentröster, vermietet sein Haus und zieht in ein leerstehendes Hotelzimmer. Auch wenn die Showanzüge unterdessen über dem Bauch spannen, reist eine kleine, schwindende Schar weiblicher Fans seinen Auftritten nach wie vor hinterher. „Ihr seid das beste Publikum, das ich je hatte. Das sag ich jedes Mal.“ Unerschütterlich lassen sie sich von seinen routinierten Bühnenflirts, Handküssen und den paar Brocken Italienisch, die Bravo im Dauerloop aufsagt wie eine deutsche Fernsehserie, begeistern. Dann taucht eine junge Frau mit Sonnenbrille bei einem seiner Auftritte auf.

Am nächsten Morgen begleitet ein junger Mann die Frau. Sie folgen Bravo in eine Hotelbar. Er wartet im Foyer, während sie mit ihm spricht. Die junge Frau ist seine Tochter, Tessa. Sie fordert die Alimente, die er nie bezahlt hat. Er versucht es mit Charme, doch Tessa entzieht sich seiner versoffenen Welt. „Ich will nicht dein Blingbling, ich will, dass du Reue zeigst.“ Zum ersten Mal sind die Risse in der Oberflächenwelt des Richie Bravo unübersehbar.

Lebenswelten gesellschaftlicher Außenseiter

„Wir zwei, ich und du, Winnetou.“ Über die Welt Richie Bravos sind alle Umwälzungen der letzten Jahrzehnte spurlos hinweggegangen. Als er das Kind seiner schwarzen Haushaltshilfe schreiend auf dem Sofa findet, hebt er es liebevoll hoch und trägt es zur Mutter. Als die sich nicht in ihrer Arbeit stören lässt, wiegt er es auf dem Arm und singt ihm ein Lied vor, in dem mehrfach das N-Wort vorkommt.

In einer anderen Szene singt er in einem scheinbar leeren Hotelsaal ein Lied, das über Martin Böttchers Filmmusik zu „Winnetou“ gelegt ist. Das Lied evoziert Wild-West-Romantik und fabuliert vom Brückenbau. Als Bravo während des Lieds durch den Saal geht, zeigt sich, dass der Saal nicht leer ist, seine Tochter sitzt an einem der Tische, wirkt halb berührt, halb betreten angesichts des Lieds. Ressentiment, hilfloser Gefühlsausdruck und Eitelkeit sind untrennbar verwoben. Seidls Richie Bravo ist angehimmeltes Mannsbild einer unerschütterten weißen, heteronormativen Welt und zugleich Fossil ebendieser Welt in der Gegenwart.

Ulrich Seidl hat sich seine gesamte Filmkarriere hindurch den Lebenswelten gesellschaftlicher Außenseiter gewidmet. Der erste Langfilm „Good News“ von 1990 zeigte das Leben von Männern aus Indien, Ägypten, Pakistan und der Türkei, die auf den Straßen Wiens eine Boulevardzeitung verkaufen. Es folgten Filme über Männer, die Frauen per Katalog bestellen („Die letzten Männer“, 1994) und über Menschen, denen Tiere der letzte Anker in ihrer Einsamkeit sind („Tierische Liebe“, 1995). Den Durchbruch brachte „Hundstage“ von 2001, der sechs Geschichten menschlicher Abgründe an heißen Augusttagen erzählte. „Import Export“ von 2007 verschränkt zwei Geschichten der Migration zwischen West- und Osteuropa. „Im Keller“ von 2014 widmete sich menschlichen Obsessionen im Verborgenen.

Der Film

„Rimini“. Regie: Ulrich Seidl. Mit Michael Thomas, Tessa Göttlicher u. a. Österreich/Frankreich/Deutschland 2022, 114 Min.

Das Ausloten der Lebenswelten, die Lust an Abgründen und der Spaß an der Provokation ist in Seidls Filmen untrennbar verbunden. Das zeigt sich auch in den Bildern von „Rimini“. Die verlassene Hotelstadt am Meer, in deren Gassen Obdachlose unter den Vordächern schlafen, ist in ihrem Aufeinanderprallen von Oberfläche und Abgrund ein klassisches Seidl-Setting.

Die Figur des Richie Bravo geht zurück auf eine Episode während der Dreharbeiten zu „Import Export“, als Michael Thomas spontan in einem Restaurant in der Ukraine ein Mikrofon ergriff und zu singen begann.

Die Dreharbeiten zu „Böse Spiele“ dauerten von 2017 bis 2019. Erst dann entschied sich Seidl, das Material über zwei Filme zu verteilen. „Sparta“ und „Rimini“ erzählen jeweils von einem der beiden Brüder der Familie. „Rimini“ ist dem Schauspieler Hans-Michael Rehberg gewidmet, der den Vater der beiden Brüder spielt. Rehberg starb 2017 während der Dreharbeiten.

Der tiefere Abdruck eines transgenerationalen Traumas

Richie Bravo bedient in „Rimini“ die Suche seiner weiblichen Fans im fortgeschrittenen Alter nach körperlicher Nähe und dem Gefühl begehrt zu werden, ohne dass diese sich an der Routiniertheit stören. Seine eigenen sozialen Beziehungen hingegen sind eine Trümmerlandschaft. Sein etwas schmieriger Charme ist ebenso Mimikry heteronormativer Partyflirts wie Mechanismus um seine Umwelt auf Distanz zu halten. In einer Szene gegen Ende des Films klingt der tiefere Abgrund transgenerationellen Traumas an. Bei einem Besuch im Altersheim schiebt Bravo seinen Vater im Rollstuhl über den Flur. Der Vater singt das Nazi-Lied „Es zittern die morschen Knochen“, während der Sohn seinen Schlager „Amore mio“ singt. Die im Klischee unverbindlich gewordene Emotionalität des Schlagers zeigt sich als Reaktion des Sohnes auf unverarbeitete Naziideologie.

Seidls neuester Film, „Sparta“, widmet sich Ewald (Georg Friedrich), dem Bruder von Richie Bravo, und erzählt den zweiten Strang der Familiengeschichte aus „Böse Spiele“. Ewald ist nach Rumänien gezogen und baut im Hinterland mit Jungen aus der Umgebung eine verfallene Schule aus. Innerlich ringt Ewald mit pädophilen Neigungen, die wie das Verhalten Richie Bravos in „Rimini“ mit der ungebrochenen Naziideologie des Vaters in Verbindung gebracht werden.

Die zentrale Frage des Skandals um den Film ist, ob Seidl das Thema der Pädophilie gegenüber den Kinderdarstellern und ihren Eltern offengelegt hat. Konkret geht es unter anderem um die Frage, ob eine Übersetzerin angewiesen wurde, das Thema Pädophilie gegenüber den Eltern zu verschweigen. Seidl klagt in einem Statement zu den Anschuldigungen wenig differenziert über den „gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, vielfach kontextloses 'Entweder – Oder’ verlangt“.

„Sparta“ und „Rimini“, die beiden Filme, die aus dem Projekt „Böse Spiele“ hervorgegangen sind, erzählen als Diptychon die Geschichten zweier traumatisierter Brüder derselben Familie. „Rimini“ zeigt Richie Bravo als personifizierte Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Seidl hat in „Rimini“ einen klugen Film über eine Welt voller menschlicher Abgründe gedreht. Eine Welt, die die unsere ist.

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