Festnahmen in Frankreich: Wegen Bagatelle sofort in Polizeihaft
Die Zahl von Festnahmen aus geringfügigem Anlass ist in Frankreich stark gestiegen – und betrifft sogar Minderjährige. Justizministerin Alliot-Marie spricht sich für eine Reform aus.
PARIS taz | An einem Dienstagmorgen wurde Anne in ihrer Pariser Wohnung vom Poltern an der Tür unsanft aus dem Schlaf gerissen. "Aufmachen, Polizei!" Eine Beamtin erklärte ihr, sie werde ab sofort in Polizeihaft genommen und zum Verhör auf die Polizeistation gebracht. Und das im Pyjama, denn ankleiden durfte sie sich vorher nicht.
Anne ist erst 14 Jahre alt. Sie sagt, sie habe sich bloß bei einem Streit zwischen Jugendlichen vor ihrer Schule dazwischengestellt. Zwei ihrer gleichaltrigen Kameradinnen wurden aus demselben Grund vor der Schule festgenommen und ebenfalls einen ganzen Tag in Verhörhaft gesteckt. Sie riskieren als Sanktion eine Mahnung. Für den Transport zur obligatorischen Arztvisite wurden die drei aber mit Handschellen gefesselt und mit Erwachsenen in einen Knastwagen gesteckt.
Das Beispiel der drei Mädchen sorgte für einen Skandal und lieferte einer bereits laufenden Debatte zusätzliche Argumente. Im Januar war durch einen Bericht die rasante Zunahme der Anzahl der Inhaftierungen für eine Einvernahme ("garde à vue") bekannt: Im vergangenen Jahr wurden mehr als 800.000 Personen, davon 200.000 wegen Übertretung der Straßenverkehrsgesetze, für eine polizeiliche Verhörhaft festgenommen. Das waren rund 35 Prozent mehr als im Vergleichsjahr 2003.
Im Unterschied zu Nachbarländern wie Deutschland ist in Frankreich die "garde à vue" auch bei Verdacht auf geringe Vergehen möglich, die allenfalls mit Geldbußen geahndet werden. Sie kann für Personen ab dem Alter von 13 Jahren von einem Polizeioffizier angeordnet werden.
Schockierende Vorfälle häufen sich. So wurde ein früherer Direktor der Tageszeitung Libération wegen einer fragwürdigen Verleumdungsklage früh am Morgen in Anwesenheit seiner Kinder verhaftet und in Handschellen aufs Kommissariat gebracht, wo er sich zweimal für eine Leibesvisitation ausziehen musste. Von einem "Verhältnisblödsinn" in vielen Fällen sprach Jean-Pierre Dubois, der Präsident der französischen Menschenrechtsliga. "Wir verlieren jedes vernünftige Maß."
Regierungsmitglied Martin Hirsch (Jugendfragen und Solidarität), der am eigenen Leibe eine solche "garde à vue" erlebt hat, befürwortet "eine tiefgreifende Revision" und sagt, es sei an der Zeit, "da auf die Bremse zu treten". Auch Justizministerin Alliot-Marie wäre nicht gegen eine Reform, die die linke Opposition verlangt. Sie meint, dass in vielen Fällen eine bloße Vorladung für eine maximal vierstündige Anhörung genüge. Die "garde à vue" soll wie in anderen Ländern nur noch bei mit Gefängnis bestraften Vergehen und Verbrechen zum Zuge kommen.
Die Polizei, die ihrerseits von der Staatsführung unter einen enormen Leistungsdruck gesetzt wird und Erfolgszahlen vorlegen muss, verwahrt sich vehement gegen den Vorwurf missbräuchlicher Festnahmen oder unwürdiger Behandlung von Inhaftierten. Da die Regierung aus Rücksichtnahme auf ihre Ordnungshüter zögert, will nun das Parlament Vorschläge ausarbeiten. Denn es wäre doch zu peinlich, wenn Frankreich wegen der Polizeihaft wie die Türkei vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“