Festival „Off the Page“ in Bristol: Die Poesie des Soundsystems
Das Festival „Off the Page“ inszeniert den Musikdiskurs in Klausuratmosphäre. Auf dem Podium waren Musiker von Robert Wyatt bis Dean Blunt.
„Different Every Time“, so heißt die druckfrische, autorisierte Biografie des britischen Musikers Robert Wyatt. Mit Wyatt und seinem Biografen Marcus O’Dair nimmt am Freitag ein langes Wochenende in Bristol seinen Anfang. Dort unterhalten sich die beiden anlässlich der Eröffnung des Festivals „Off the Page“ über die vielen, auch schillernden Facetten in der Kariere des 69-jährigen Künstlers. „Wir Engländer wissen nicht übermäßig viel über Musik“, sagt Wyatt, „aber wir mögen den Lärm, den sie entfacht.“
„Off the Page“ rückt den Diskurs über Musik ohne viel Getöse in den Mittelpunkt. Ehrgeizige Konzertmarathons fehlen. Man nennt sich bewusst „Literatur-Festival“ und setzt auf Klausuratmosphäre: ein, maximal zwei Personen bestreiten ein Panel, begleitend läuft ein Filmprogramm. An drei Tagen wird so viel und so unspektakulär Musikwissen vermittelt, dass in dieser Beiläufigkeit schon wieder Glamour liegt. Es wird nicht unnötig akademisch, stattdessen fordert am Sonntag ein Pubquiz selbst musikaffinen Ratefüchsen das Höchste ab.
„Wir präsentieren ausschließlich Autoren und Künstler, deren Werke uns am Herzen liegen“, erklärt Tony Herrington, Festival-Kurator, ansonsten Chefredakteur des Londoner Musikmagazins The Wire. „Off the Page“ findet bereits zum vierten Mal statt. Dieses Jahr fiel die Wahl auf Bristol, weil die Stadt seit den Tagen von Punk eine eigenständige, stark von afrobritischen Musikern geprägte Künstlerszene hat.
Lokale Produzenten wie Pinch oder Peverelist sind unter den Zuschauern. Der Zuspruch gibt „Off the Page“ recht, ein interessiertes Publikum füllt bei den Veranstaltungen die Sitze im Auditorium des Kunstmuseums Arnolfini, eines ehemaligen Lagerhauses in den Docks am Hafen, stellt gute Fragen, frequentiert die Büchertische.
The Soft Machine
Die Exemplare von „Different Every Time“ sind schnell verkauft. Kein Wunder, so reflektiert, wie Wyatt sein Leben auf der Bühne Revue passieren lässt. Von der Kindheit im Nachkriegsengland und einem liberalen Elternhaus, der Begeisterung für Jazz, die ihn schon in früher Jugend erfasst hat und in den Sechzigern mit The Soft Machine bei einer der fortschrittlichsten Rockbands spielen ließ, erzählt er nüchtern.
Und dann kommt die Sprache auch auf die alkoholbedingten Abstürze mit seinem Freund und Kollegen, dem Drummer von The Who, Keith Moon („ein früher Binge-Drinker“). Während einer Party stürzte Robert Wyatt 1973 aus einem Fenster, bricht sich den Halswirbel, ist seither querschnittsgelähmt. „Die Malaise, die ich angerichtet habe, habe ich zu akzeptieren gelernt.“
Wyatts Schlagzeugtechnik hat das vor neue Herausforderungen gestellt, er klopft den Beat seither mit den Händen. Auch seine jungenhaft klingende, an Chet Baker erinnernde Stimme, lässt die Mühen des Daseins beim Singen hören. Und dann erzählt Wyatt, wie er mit seiner Band Soft Machine an der Seite von Jimi Hendrix 1968 durch die USA getourt ist.
Damals habe er ein Land am Rande eines Bürgerkriegs wahrgenommen. Wie verklemmt die Weißen mit Hendrix umgegangen seien, das hätte ihn, Wyatt, erzürnt. Vielleicht liegt es an seiner marxistischen Haltung, aber hier ist jemand nie versöhnt gewesen mit den Umständen. Doch in seiner Musik kommt stets auch heraus, wie sehr er am Leben hängt: „Ich bin Hedonist.“
„Black experience“
Am Samstag kehrt Jimi Hendrix als Echo wieder. Sein Song „3rd Stone from the Sun“, so erläutert der britische Soziologe und Kulturwissenschaftler Paul Gilroy, stelle mit dem experimentellen Einsatz von Verstärkern und Effektgeräten einen Meilenstein des Dub dar. Gilroy spricht über die „black experience“ in Großbritannien, die Entstehung des afrobritischen Selbstbewusstseins und das tut er anhand seiner Lieblingssongs. Vorneweg „Ghost Town“ von den Specials mit dem jamaikanischen Posaunisten Rico Rodriguez. Der Song habe 1981 den Menschen in Großbritannien klargemacht, dass Rassismus uncool sei.
„Wir sind keine Einwanderer, wir sind Menschen“ ist auch die Botschaft des Reggae-Sängers Dennis Brown, der in seinem Song „Equal Rights“ (1978) die UN-Erklärung der Menschenrechte zitiert. Anlässlich der Notting-Hill-Riots 1976 wurde Dennis Brown wegen Anstiftung zum Aufstand verhaftet. Mit dieser Geschichte schlägt Gilroy einen Bogen in die Gegenwart: „Only Cowards steal from the Poor“ lautet ein Graffito auf einer Mauer in dem Videoclip von Dizzie Rascals Song „Sirens“.
Dabei wird der britische Rapper von einem weißen Reiter in einer albtraumhaften Fuchsjagd durch eine Hochhaussiedlung gehetzt. Gilroy wundert sich darüber, wie wenig die Riots von 2011 in der britischen Popmusik bis dato thematisiert wurden. Die Stille interpretiert er damit, dass die karibische Produktionsästhetik in der britischen Popmusik seit den nuller Jahren zugunsten von afrikanischen Einflüssen in den Hintergrund getreten ist.
Vier Stockwerke in Echtzeit
Die Gegenthese ist am Samstagabend in Form einer öffentlichen Generalprobe zu erleben. Julian Henriques, wie einst Gilroy heute Dozent am angesehenen Londoner Goldsmiths-College und Autor von „Sonic Bodies“, einer faszinierenden Kulturgeschichte über die Wurzeln des jamaikanischen Soundsystems, bittet Ras Muffet, den Betreiber des lokalen Bristoler Soundsystems „Roots Injection“, auf die Bühne. Muffet und seine Crew bauen ihr Soundsystem in Echtzeit auf. Nach und nach bestücken sie ihre beiden Boxentürme mit vier Stockwerken von Bass- und High-End-Boxen, verkabeln und verschalten Eingänge.
In der Mitte der Bühne hat Muffin, er ist der Selector, also derjenige, der die Musik auswählt, einen Plattenspieler auf dem Schaltpult platziert. Er legt eine Single auf, aber belässt die Musik nicht in ihrem Originalklang, sondern dreht an den Knöpfen, bringt die Quintessenz des Dub zum Klingen und pegelt Bässe, Mitten und Höhen nach Gusto ein und aus. Auch die Raumarchitektur spielt in dieser Eichungsarbeit eine Rolle, der Klang wird von den Wänden als Echo zurückgeworfen. Und so klingt die Musik mal danach, als käme sie aus dem Bauch eines Wals, mal, als kitzelten kleine Glöckchen die Trommelfelle.
Dieses Feintuning ist eine langwierige, ortsspezifische Arbeit: „Speakers“ heißen die Boxen, nicht „Shouters“, so Ras Muffet. Es geht beim Dub nicht nur um Lautstärke und ihre sinnliche Erfahrung, es geht vor allem um ihre spirituellen Komponenten: „Roots and culture“, sagt Muffet, zieht seinen Wollzylinder ab, und dicke Rastalocken kommen zum Vorschein.
Dass Musik Bilder entstehen lässt, Bilder und Musik aber synästhetisch zu etwas Drittem in der Lage sind, ist die Hypothese der australischen Künstlerin Sally Golding, die für „Off the Page“ das Filmbegleitprogramm „The Bleeping Light“ zusammengestellt hat: Die Leinwand ist niedrig angebracht, auf Kissen am Boden liegend verfolgt man die Filme: Golding präsentiert Arbeiten von 14 Künstlern, die audiovisuell nach eigenen Zugängen suchen.
Etwa „Nebula Rising“, ein Werk der beiden Koreaner Hangjun Lee und Chulki Hong. Es ist eine Klang- und Bilderkakofonie aus extremem Noise auf der Tonspur und Filmmaterial, dessen Zelluloid vom Projektor gefressen wird. Das Rauschen, live erzeugt mit Turntables und Effektgeräten, verstärkt die Bildebene, aber interveniert auch gegen die Taktung der Bilder. Man vermutet, die Musik sprengt die Leinwand.
Licht aus, Spot an
Am Sonntagnachmittag bleibt die Bühne bis auf einen einzigen Lichtspot abgedunkelt. Dort, im hellen Schein, zeigt sich Dean Blunt, im Sonntagsstaat mit schwarzem Anzug, weißem Hemd und Fliege. Er tritt vors Mikrofon und deklamiert einen Text. Oder sind es Lyrics aus seinem in Kürze erscheinenden neuen Album, „Black Metal“? Angekündigt war der Auftritt als „Black Metal: A Reading“. Versucht der Popstar eine Lesart seines eigenen Werks? Oder ist er ein Politiker, der eine Sonntagsrede hält?
Seine feste Stimme erinnert in ihrer Diktion an den Sänger Linton Kwesi Johnson. Doch Blunt setzt den Flow ganz anders ein als Johnson. Dessen Coolness ist bei Blunt einer Dringlichkeit gewichen. Ich bin jetzt an der Reihe, gebt her, was mir zusteht, scheint Blunt zu sagen. Er zählt die Promotionsmaßnahmen seines letzten Albums auf, stellt Kosten gegen Nutzen in Rechnung. Gehört dies zur Performance? Verliest Blunt reale Zahlen? Improvisiert er? In den bekannten Codes des Pop wirkt Dean Blunt wie ein Außerirdischer.
„Die Leute glauben, ich sei dämlich, aber ich bin ein verdammter Gewinner.“ Mit diesem Schlusssatz geht er von der Bühne. Grußlos. Fünf Minuten dauert der Auftritt, und doch steckt in diesen fünf Minuten so viel Charisma, dass man es riechen kann. Das Publikum braucht einen Moment, bis es zum Beifall bereit ist. „Er hat schon Klasse“, sagt Tony Herrington und weiß doch genau, dass Anerkennung für jemand wie Dean Blunt nicht selbstverständlich ist. Es war der Höhepunkt eines begeisternden Wochenendes.
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