Ferat Koçak über Wahlerfolg in Neukölln: „Wir haben hier eine Bewegung aufgebaut“
Auch nach der Wahl will Linken-Politiker Ferat Koçak die Haustürgespräche in Neukölln fortsetzen. Ziel sei, die Menschen an seinem Mandat zu beteiligen.
taz: Herr Koçak, es war eine der Überraschungen des Wahlabends: Mit 30 Prozent der Erststimmen haben Sie für die Linke das Direktmandat im Wahlkreis Neukölln gewonnen. Wie haben Sie das geschafft?
Ferat Koçak: Wir haben den Menschen zugehört und ihre realen Probleme und Sorgen ins Zentrum unserer Wahlkampagne gerückt. Dafür haben wir an 139.000 Haustüren geklingelt und mehr als 50.000 Gespräche geführt. Auf diese Weise haben wir viele Menschen erreicht, die sich von der Politik abgehängt fühlen – und dann erlebt haben: Da gibt es Leute, die sich für mich interessieren und dafür kämpfen, dass sich meine Lebensumstände verbessern.
45, ist in Kreuzberg geboren und in Neukölln aufgewachsen. Koçak engagiert sich seit seiner Jugend vor allem in den Bereichen Antirassismus und Antifaschismus. Ab 2021 saß der Diplom-Volkswirt für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus, künftig vertritt er den Wahlkreis Neukölln als direkt gewählter Abgeordneter im Bundestag.
taz: Das war möglich durch die Unterstützung von Hunderten, meist jungen Menschen, die für Sie geworben haben. Woher kam diese bemerkenswerte Mobilisierung?
Koçak: Ich habe immer ganz klar gesagt, ich will Politik anders machen: nicht von oben, sondern mit den Menschen. Und für diese Vision können sich viele Menschen begeistern, die bisher mit der Linkspartei oder Parteien insgesamt nicht viel anfangen konnten. Außerdem bin ich verwurzelt in Neukölln, die Solidarität ist stark. Die Leute kennen mich von Demonstrationen und als Überlebenden eines rechten Brandanschlags. Auch das Vertrauen in meine Person hat dazu geführt, dass ich viel Unterstützung bekommen habe.
taz: Was machen Sie nach der Wahl aus diesem Momentum?
Koçak: Es geht direkt weiter: Wir setzen die Haustürgespräche fort, am 16. März ist der nächste Termin. Wir haben ja noch nicht an allen Türen von Neukölln geklingelt! Für uns ging es nie nur darum, Wahlkampf zu machen. Wir haben hier eine Bewegung aufgebaut, und diese Arbeit geht jetzt weiter. Auch indem wir Stadtteilversammlungen organisieren und so dauerhaft Räume schaffen, in denen die Menschen in Neukölln politisch aktiv sein können.
taz: Jetzt sitzen Sie bald im Bundestag. Für welche Themen wollen Sie sich dort besonders einsetzen?
Koçak: Meine Anliegen sind die Anliegen der Neuköllner. Ich verstehe mein Mandat als kollektives Mandat, deshalb entscheiden wir gemeinsam. Aber klar, hinter vielen Themen, die hier im Bezirk drängen – Mieten, Nahverkehr, Müllentsorgung –, steht eigentlich die Frage nach Umverteilung. Da will ich den Druck hoch halten. Und natürlich kämpfe ich weiter für die Dinge, die ich auch im Berliner Abgeordnetenhaus und auf der Straße vertrete: Antirassismus, Antifaschismus und Klimagerechtigkeit.
taz: Wie sieht dieses kollektive Mandat aus?
Koçak: Wichtig dafür sind die Stadtteilversammlungen, wo gemeinsam entschieden wird. Außerdem spreche ich mich mit dem Neuköllner Bezirksverband ab. Letztlich geht es darum, dass die Menschen vor Ort in gewisser Weise über mein Mandat mit verfügen können. Aber es funktioniert auch umgekehrt. Ich will Aktivist*innen in ihren Kämpfen unterstützen, zum Beispiel jetzt die Mieterinitiative aus der Weißen Siedlung, die ich zum Gesundheitsamt begleite. Mein Mandat verleiht dem mehr Nachdruck. Auch so kann man das Mandat gemeinsam nutzen.
taz: Schon viele Politiker*innen sind mit großen Versprechen in den Bundestag eingezogen und haben dann ihre Wähler*innen enttäuscht. Wie sehen Sie diese Gefahr? Schließlich wird die Linke als kleinste Oppositionsfraktion kaum etwas ändern können.
Koçak: Ich knicke nicht ein. Wir haben von Anfang an gesagt: Alle anderen Parteien versprechen vor der Wahl die tollsten Dinge. Wir nicht, außer dass wir mit aller Macht für die Themen der Neuköllner kämpfen und unsere Ressourcen im Bundestag für die hart arbeitenden Menschen einsetzen. Enttäuschend wäre, wenn ich nichts machen würde. Aber die Menschen können sich darauf verlassen, dass ich für sie streite und mich mit ihnen rückkopple. Und ich habe schon immer mein Gehalt auf 2.500 Euro gedeckelt, das werde ich im Bundestag weiter so machen. Das ist die Versicherung für die Leute, dass ich unverkäuflich bin und mir und den Neuköllnern treu bleibe.
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