Fassadenbegrünung in Kreuzberg: Die grüne Hülle soll fallen
Ein jahrzehntealter Wilder Wein, Biotop und natürlicher Hitzeschutz, soll wegen einer Sanierung geopfert werden. Naturschutzgesetze helfen da wenig.
Mindestens 60 Jahre alt dürfte der Wein sein, schätzt Kirchenmusiker Uli Domay. Sein Arbeitsplatz ist das Kirchenschiff hinten im Hof – von der Straße aus lassen nur die beiden Turmstummel auf dem um 1910 errichteten Vorderhaus erahnen, dass sich ein religiöses Gebäude dahinter verbirgt. Domay wohnt hier im vierten Stock, wie die anderen BewohnerInnen kann er die Dachterrasse auf dem Seitenflügel nutzen. Sie ist komplett von Blättern umhüllt, die sich im Herbst leuchtend rot färben.
Dieses Jahr vielleicht zum letzten Mal. Das Todesurteil für den Wilden Wein ist schon längst gefällt, und im Oktober könnte es vollstreckt werden. Der Grund: Das Bündel armdicker Stämme kommt direkt neben der Remise des Nachbargrundstücks aus dem Boden. Die beherbergte früher eine Tischlerei, vor einigen Jahren wurden Wohnräume daraus, nun sind dort die Wände feucht. Zur Sanierung soll das einstöckige Gebäude von außen gedämmt werden – und da ist der Wurzelstock der Weinpflanze im Weg.
Schutz gegen die Sonneneinstrahlung
Die Nachricht kam im Februar. Die Hausgemeinschaft und viele Gemeindemitglieder empfanden sie als Katastrophe – nicht nur, weil sie das Fassadengrün wunderschön finden. Sie verweisen auf den ökologischen Wert, auf die vielen Tiere, die davon leben, und die Bedeutung des Blattwerks, das in immer heißeren Sommern Schutz gegen die Sonneneinstrahlung bietet. Eine über Jahrzehnte gewachsene zweite Gebäudehaut – sollte man die im Angesicht der Klimakrise einer kleineren Baumaßnahme opfern?
Pfarrerin Monika Matthias, Uli Domay und andere nahmen Kontakt mit dem Bezirksamt auf. Das entschied in Gestalt der Unteren Naturschutzbehörde, dass die Baumaßnahme nicht vor Oktober genehmigungsfähig ist. Bis dahin muss der Eigentümer des Nachbargrundstücks oder die mit der Sanierung beauftragte Firma Gutachten über die Bedeutung des Weins als Lebensraum von Hymenopteren – „Hautflüglern“, also Bienen und Hummeln – und Vögeln einholen. Aber selbst wenn diese Gutachten belegen, wie nützlich der Wilde Wein für diese Tiere ist: Es sieht nicht gut für ihn aus.
Ohne Schutzstatus
Die Rechtslage ist für Laien nicht gerade einfach zu überblicken. Als Art genießt die Selbstkletternde Jungfernrebe, so der korrekte Name der Pflanze, keinen besonderen Schutzstatus. Da aber die meisten Insekten und Vögel diesen haben, stellt sich die Frage, ob Paragraf 44 des Bundesnaturschutzgesetzes anzuwenden ist. Der verbietet, „Fortpflanzungs- oder Ruhestätten“ geschützter Arten „aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören“. Die Norm käme zur Anwendung, sollte sich herausstellen, dass bestimmte Vögel, Haussperlinge etwa, zwischen den Blättern und Zweigen brüten.
Aber auch das wäre noch lange nicht die Rettung: Denn das Gesetz sieht viele Ausnahmen vor, die einen Eingriff genehmigungsfähig machen – darunter die Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen oder Gründe „sozialer oder wirtschaftlicher Art“. Noch weniger spricht rein rechtlich gegen eine Ausnahmegenehmigung, wenn lediglich Paragraf 15 greift, der grundsätzlich dazu verpflichtet, „vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft“ zu unterlassen.
Eine Ausnahmegenehmigung zieht zwingend sogenannte Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen nach sich, die der Verursacher – in diesem Fall der Bauherr – zu leisten hat. Die entsprechenden Auflagen der Naturschutzbehörden beschränken sich aber oft auf das Anbringen einiger Nistkästen oder eine Neupflanzung an anderer Stelle. Dass das den ökologischen Verlust keineswegs wettmacht, liegt auf der Hand.
Das Friedrichshain-Kreuzberger Naturschutzamt wollte sich auf Anfrage der taz nicht inhaltlich äußern: Weil noch nicht alle Gutachten vorlägen, sei „eine fachliche Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt abschließend nicht möglich“, teilte die Pressestelle des Bezirks lediglich mit.
Aus dem Schriftwechsel mit den AnwohnerInnen, der der taz vorliegt, geht allerdings hervor, dass das Amt wenig Chancen für einen vollständigen Erhalt des Weins sieht. Immerhin legt es Wert auf die Feststellung, dass auch nach Beginn der Baumaßnahme genau zu prüfen sei, ob tatsächlich das gesamte Wurzelwerk oder nur Teile davon entfernt werden müssten.
„Wie ein kleiner Wald“
Caroline Seige pocht auf die Pflicht der Behörde, nicht nur Ausgleich oder Ersatz sicherzustellen, sondern auch die Prüfung technischer Alternativen bei der Remisen-Sanierung einzufordern. Die Naturschutzexpertin engagiert sich in der AG „Artenschutz bei Bauvorhaben“ der NaturFreunde Berlin e.V. und kennt sich mit solchen Konfliktlagen aus. Sie hält es zum Beispiel keineswegs für ausgemacht, dass die vorgesehene Außendämmung die einzige Möglichkeit ist, das Feuchtigkeitsproblem in den Griff zu bekommen.
„Nur wenn Alternativen dazu den finanziellen Rahmen der Bauherren komplett sprengen würden, dürften sie als unzumutbar gelten. Das müsste aber erst mal ermittelt werden“, sagt Seige. Für sie sind Fassadenbewüchse wie der Wilde Wein der Marthagemeinde „richtige Powerpakete“ mit einer ökologischen Funktion „fast wie ein kleiner Wald“.
Auch Ansgar Poloczek, Artenschutzreferent im Landesverband des NABU, betont die Bedeutung großflächiger Fassadenbegrünungen, auch weil sie für Verdunstungskühle und Luftaustausch sorgen. Efeu sei sogar noch wertvoller, so Poloczek, „den kann man in seiner ökologischen Wertigkeit gar nicht überschätzen“. Aber auch ihm ergeht es im Zweifelsfall nicht besser.
Besonderes Pech von Wildem Wein und Efeu: Sie können groß und alt wie Bäume werden, sind aber keine. Deshalb greift bei ihnen die Berliner Baumschutzverordnung nicht. Die ist nach Poloczeks Einschätzung zwar auch „ein bisschen zahnlos“ und wird durch eine vorliegende Baugenehmigung meist außer Kraft gesetzt, bietet aber doch einen etwas höheren Schutzstatus. Das Land Berlin solle es in Betracht ziehen, besonders alte oder ausladende Fassadenbegrünungen – auch als „stadtprägende Elemente“ – in die Verordnung aufzunehmen, meint Poloczek deshalb.
In der Glogauer Straße bleibt die Stimmung derweil gedrückt – und das Unverständnis groß. In einer E-Mail an das Naturschutzamt drückten es GemeindevertreterInnen vor Kurzem so aus: „Auf Ihrer Webseite befinden sich hochglanzpolierte Maßnahmen zur Förderung von ‚bestäuberfreundlichen Gestaltung von Hinterhöfen‘, ‚Wildbienenprojekten‘ und ‚Hofbegrünungsprogrammen‘. In unserer Gemeinde und im Kiez ist nicht vermittelbar, wie locker ihr Amt der Vernichtung eines alten Lebewesens, das so vielen Tieren Schutz und Nahrung bietet und das Klima positiv beeinflusst, zustimmt – um ein paar Quadratmeter Styropor auf eine Remisenwand zu kleben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken