Schritt zum „totalen Frieden“

Die Farc-Splittergruppe Estado Mayor Central (EMC) und die Regierung in Kolumbien haben einen Waffenstillstand vereinbart. Mitte Oktober sollen auch Friedensgespräche offiziell beginnen

Danilo Rueda und Andrey Avendano

Der kolum­bianische Hochkommissar für den Frieden und ein Farc-Generalstabs­mitglied bei den Gesprächen am Sonntag in Tibú Foto: Fernando Vergara/ap

Aus Bogotá Katharina Wojczenko

Was am Sonntag in Tibú passiert ist, lässt sich am besten mit Chaos beschreiben. Nach Stunden des Wartens bei 40 Grad stürmten Bauern die Bühne in der kolumbianischen Kleinstadt Tibú, an der Grenze zu Venezuela, und schrien ihre Wut heraus: „Wir bewegen uns nicht fort von hier, solange die Regierung nicht den Waffenstillstand dekretiert! Wir sind nicht 40 Stunden gereist, und dann wird aus dem Waffenstillstand nichts!“ Da unterbrach das kolumbianische Staatsfernsehen die Übertragung – und spielte stattdessen Grimms Märchen ein.

Am Ende wurde ein beidseitiger, zehnmonatiger Waffenstillstand zwischen Regierung und der Farc-Splittergruppe Estado Mayor Central (EMC) und der Beginn von Friedensgesprächsrunden offiziell vereinbart. Der Waffenstillstand soll am 16. Oktober beginnen, die Friedensgespräche in einer Woche starten.

Rund 5.000 Menschen waren in die Gemeinde an der Grenze zu Venezuela gereist, die bekannt für den Koka-Anbau ist – und zuletzt für die Krise der Koka-Bauern, die ihre Ware nicht mehr losbekommen und Hunger leiden. Bei Tibú kämpft der EMC mit der ELN-Guerilla immer noch um die Vorherrschaft – während die ELN-Guerilla mit dem Staat seit August offiziell bereits im Waffenstillstand ist. Das bringt den Menschen in der Region aber wenig, solange die Gruppen weiter untereinander kämpfen und sie zwischen die Fronten geraten.

Der EMC ist ein Teil der Farc-Guerilla, der das historische Friedensabkommen mit dem kolumbianischen Staat 2016 nicht unterschrieben hat. Die Gruppe nennt sich EMC-FARC-EP und begreift sich als die wahre Farc. Ihr Anführer nennt sich „Iván Mordisco“. Seit 2016 hat sie ihre Macht rasant ausgedehnt. Rund 3.400 Kämpferïnnen und Milizionäre sollen mittlerweile zu ihr gehören – mehr als zehn Mal so viele wie damals. Ihr Einflussgebiet erstreckt sich über mehrere Amazonas-Departamentos im Süden Kolumbiens, dazu die Grenzregion zu Ecuador und die Pazifikküste hoch bis Cauca. Und im Osten des Landes die für den Drogenhandel ebenfalls wichtige Grenzregion zu Venezuela.

Die Regierung des linken kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro hat versprochen, mit allen verbliebenen bewaffneten Gruppen zu verhandeln, um endlich den „totalen Frieden“ zu erreichen. Der bilaterale Waffenstillstand mit dem EMC am Sonntag ist ein Schritt dazu.

Dass diese Einigung schwierig würde, hatte sich schon in der Woche davor abgezeichnet. Da hatten beide Delegationen sich bei Gesprächen in Bogotá vorgetastet. Zwei Mitglieder der EMC-Delegation sagten der taz wenige Tage vor Tibú, dass die Regierung das unterschriftsreife Dokument fürs Waffenstillstands-Dekret eigenmächtig abgeändert habe.

„Das Problem ist, dass keine Juristïnnen von Anfang an dabei sind“, sagte Padre Eliécer Soto, der den Prozess für die katholische Kirche begleitet. So ging das Dokument fürs Dekret an die Übergeordneten – die dann beispielsweise aus dem „Ende der Militäroperationen“ ein „Ende der Militäraktionen“ gemacht hatten. Statt der besprochenen zehn Monate landesweitem Waffenstillstand schlug die Regierung vergangene Woche zudem einen regionalen, stufenweisen Waffenstillstand vor, beginnend mit der Grenzregion zu Venezuela. Das warf die Vorarbeit über den Haufen.

Beide Delegationen haben sich im Vorfeld über das Dokument fürs Waffenstillstands-Dekret gestritten

Die EMC-Unterhändler kritisierten auch, dass die Militäroperationen im Cañón del Micay weitergingen. Gefangene mit Verletzungen seien nicht medizinisch versorgt worden und hätten Gliedmaße verloren. Sie fühlten sich nicht ausreichend geschützt während der Gespräche. Vertrauen habe man nur in internationale Beobachter wie UNO, EU, Kirche und Rotes Kreuz. Umgekehrt kam es schon einen Tag nach der gemeinsamen Verkündung im September vom Plan zum Waffenstillstand zum ersten Bombenangriff des EMC. Am 20. September wurden sieben Polizisten bei einem Anschlag verletzt.

Am Sonntag blieben in Tibú die Stühle neben der EMC-Delegation lange leer, auf denen die Regierungsdelegation Platz nehmen sollte. Deren Anführer Camilo González Posso musste gerufen werden und versuchte bis zuletzt herbeizuschaffen, was sich die Menschen so wünschen: endlich Waffenstillstand. Und der kolumbianische Hochkommissar für den Frieden, Danilo Rueda, tauchte erst auf, nachdem die wütenden Bauern die Bühne gestürmt hatten. Dann überbrachte er eine mit dem Präsidenten abgestimmte Botschaft: Am 16. Oktober wird der Waffenstillstand beginnen und werden die Gespräche für den Friedensdialog formell eröffnet – auch dann wird das Dekret veröffentlicht. Bis dahin sollen die „offensiven Operationen“ der Regierung gegen den EMC ausgesetzt werden. Ein Schrittchen.