Familientragödien: Ein Herz für Mütter
Acht tote Kinder in einer Woche, wohl von den Müttern umgebracht. Alles fragt sich, wie eine Mutter das tun kann. Die bessere Frage: Was erwarten wir von Müttern?
Innerhalb weniger Tage wurde der gewaltsame Tod von acht Kindern bekannt. Fünf Jungen starben im holsteinischen Darry. Sie sollen von ihrer 31-jährigen Mutter erstickt worden sein, die offenbar psychisch schwerkrank ist. Drei tote Kinder fand die Polizei im sächsischen Plauen. Auch hier steht die Mutter, 28 Jahre alt, im dringenden Verdacht, für den Tod der Neugeborenen verantwortlich zu sein, obwohl sie ihre Schuld bestreitet. Und während Kanzlerin Merkel eine "Kultur des Hinsehens" fordert und andere Politiker Kindstötung künftig mit einer Verpflichtung zu regelmäßigen Besuchen beim Kinderarzt verhindern wollen, klebt der Blick der Öffentlichkeit immer noch an den Müttern: Was sind das für Frauen, die ihre Kinder umbringen? Was bitte haben diese Mütter für ein Problem? Und ist es überhaupt ein Problem der Mütter?
Annegret Wiese versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Münchner Psychologin und Rechtsanwältin hat ein Buch mit dem Titel "Mütter, die töten" geschrieben. Statt die bekannte Erzählung von Rabenmüttern zu bemühen, die ihre Kinder verwahrlosen lassen, meint Wiese: "Mütter, die solche Taten begehen, handeln nicht unbedingt feindselig. Manche morden aus pervertierter Fürsorglichkeit heraus." Sie empfinden ihre Umgebung als schlimm und wollen ihr Kind nicht einer solchen Dreckswelt überlassen. Wiese berichtet von Interviews mit Müttern, die nach der Tat sagen: "Ich habe das Kind besonders geliebt, wissen Sie?"
Doch oft kämpfen die Mütter nicht nur mit der Dreckswelt. Sie kämpfen vor allem mit einem Bild: dem der perfekten Mutter, an dem sie sich orientieren und an dem sie sich abarbeiten.
Dieses Bild, das die Erwartungshaltung der Gesellschaft an die Mutter darstellt, sieht so aus: Die Mutter hat ihr Kind bedingungslos zu lieben. Weniger als das geht nicht. Basta. Die Mutter hat sich für ihr Kind zu interessieren, auch wenn das gerade zum elften Mal dasselbe erzählt. Sie soll aufgeschlossen und aufmerksam sein, beschützen, aber nicht einengen. Das Kind soll sich ja entfalten können.
Zwar muss sich die perfekte Mutter heutzutage nicht mehr 18 Jahre lang am Herd die Beine in den Bauch stehen, aber für allzu viel Unabhängigkeit ist dennoch kein Platz - und schon gar nicht für Zweifel an der Bedingungslosigkeit ihrer Liebe zum Kind. Es ist ein emotionaler Knebelvertrag, den die Mütter mit sich selbst abschließen. "Sie scheitern an ihren eigenen überzogenen Vorstellungen davon, wie sie mit ihren Kindern umzugehen haben", sagt Wiese dazu. "Diese Vorstellungen sind dermaßen idealisiert, dass die Frauen ihnen niemals gerecht werden können." Wer die Idee von der idealen Mutter zu ernst nimmt, muss früher oder später komplett versagen. Dumm nur, dass man hierzulande beharrlich so tut, als seien die überzogenen Erwartungen an Mütter tatsächlich zu erfüllen. Dass Kindererziehung auch extreme Überforderung bedeuten kann, darf eine Mutter nicht offen zugeben. Denn sie hat zu funktionieren. Das erwarten wir von ihr.
Oder etwa nicht? Denken wir mal an quengelnde, laute Kinder an der Supermarktkasse, die mit Überraschungseiern werfen. Oder an Halbstarke, die hinter einem im Flugzeug sitzen und einem ständig ihre kleinen Füße in die Wirbelsäule rammen: Sofort kassiert die Mutter von uns einen verurteilenden finsteren Blick, eben weil sie ihre Kinder nicht im Griff hat, was aber ihre mütterliche Pflicht wäre. Ob sie überfordert ist, ist uns doch egal.
Dass die Gesellschaft ein falsches Mutterbild stützt und fördert, davon ist Hans-Joachim Maaz überzeugt. Sein Buch "Der Lilith-Komplex" ist die Suche nach einem passenderen Bild von Mutterschaft. Der Psychotherapeut beschäftigt sich darin mit den dunklen Seiten des Mutterdaseins: Lilith ist die verleugnete Schwester Evas. Sie steht für Lust, für Sexualität und Selbstbestimmung. Im Mythos Lilith lebt der Unmut über Mutterpflichten und unerfüllte Wünsche.
Wofür Maaz völlig zu Recht plädiert, lässt sich so zusammenfassen: Es ist Zeit, sich einzugestehen, dass auch arg negative Gefühle wie Wut und vielleicht sogar Hass dazugehören, wenn man ein Kind erzieht. Wenn wir diesen Gedanken zulassen, kommen wir irgendwann auch mit ihm klar. Und hoffentlich von dem verschrobenen Idealmutterbild ab, das die Mütter viel zu sehr unter Druck setzt.
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