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Familienrechtler über Kindesmisshandlung"Wir brauchen mehr Kontrollen"

Um Kindesmisshandlungen zu verhindern, muss es mehr und verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen geben, sagt der Familienrechtler Ludwig Salgo. Und weniger Fehler seitens der Jugendämter.

"Nicht alle Fälle sind so eindeutig wie bei Kevin oder Lea-Sophie". Bild: ap

taz: Herr Salgo, nach dem jüngsten Fall von Kindesmisshandlung in Schwerin wird gefordert, bisher freiwillige Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen. Ist das denn sinnvoll?

Bild: uni frankfurt

LUDWIG SALGO, Jahrgang 1946, lehrt Jura am Fachbereich soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Frankfurt/Main und an der juristischen Fakultät der Frankfurter Universität. Der Familienrechtler befasst sich vor allem mit den Rechten von Kindern. Mehr Informationen zum Thema und eine Publikationsliste des Autors finden sich bei der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie, www.agsp.de

Ludwig Salgo: So, wie die Untersuchungen U 1 bis U 9 derzeit aussehen, bringt eine Verpflichtung nicht viel. Den Kinderärzten fehlt die Zeit und die Kompetenz, um Kindeswohlgefährdungen zu erkennen. Nicht alle Fälle sind so eindeutig wie die Fälle Kevin oder Lea-Sophie. Die Untersuchungen müssten um psychosoziale Aspekte erweitert - und dann verpflichtend werden.

Welche Sanktionen für Eltern sind denkbar, die ihre Kinder den Untersuchungen entzögen?

Eltern sind verpflichtet, an der Aufklärung und Vermeidung von Gefährdungsrisiken mitzuwirken. Wenn sie das nicht tun, können sie dazu gezwungen werden. Hessen erarbeitet gerade ein entsprechendes Gesetz: Demnach müssen Ärzte alle durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen melden. Eltern, die Untersuchungen unterlassen, werden zentral erfasst und an ihre Teilnahmepflicht erinnert. Reagieren sie nicht, wird das Jugendamt eingeschaltet. Führen auch dessen Aktivitäten zu nichts, wird das Familiengericht informiert; dieses kann die Eltern zur Teilnahme zwingen. Dann sind auch Beschränkungen im Sorgerecht möglich.

Die Jugendämter würden stark in Familien eingreifen. Wie verhindert man Missbrauch?

Wir brauchen in den Jugendämtern Mitarbeiter, die erfahren und gut ausgebildet sind, auch im Umgang mit schwierigen Klienten und im Umgang mit Zwangskontexten. Die Jugendämter brauchen Zeit, Gelassenheit, sie müssen externe Experten wie Psychologen und Psychiater hinzuziehen. Die Jugendämter müssen sich öffnen. In den Ämtern gibt es weniger ein Ressourcenproblem als eines der Haltungen und Einstellungen: mangelnder Mut, Opportunismus und ein nicht adäquates Methodenrepertoire. Auch fehlt es oft an einer rechtlichen Beratung der Fachkräfte.

Ein anderes Konzept setzt auf Hilfsangebote. In Dormagen oder Potsdam zum Beispiel besuchen Sozialarbeiter Familien mit Neugeborenen mit Einwilligung der Eltern. Eine gute Idee?

Alles, was mehr Vertrauen in Ämter und Hilfsstrukturen schafft, ist gut. In Deutschland wird die Verantwortung für Kinder nicht so selbstverständlich als eine gesellschaftliche verstanden wie in anderen Ländern. Da haben wir noch viel an den Schatten der Vergangenheit zu arbeiten.

Erreicht man mit solchen Beratungsangeboten die Kinder, die es brauchen?

Wenn durch sie ein Unterstützungsnetzwerk entstünde und Neugeborene in großer Zahl erreicht würden, wäre das gut. Bei einem Teil der Eltern, die etwa suchtmittelabhängig oder psychisch krank sind, werden wir ohne gerichtliche Auflagen oder sogar Sorgerechtsbeschränkungen nicht auskommen. Justiz, Jugendhilfe und Gesundheitsdienste müssen weit mehr als bisher kooperieren. Kontrollmaßnahmen sind unvermeidbar. Es gibt kein perfektes System, das alle Katastrophen verhindern kann. Derzeit begegnen wir indes leicht vermeidbaren Fehlern.

Sind Fälle wie Lea in Schwerin oder Kevin in Bremen Einzelfälle?

Nein, die Jugendämter leisten jährlich in über 600.000 Fällen die sogenannte Hilfe zur Erziehung. Etwa ein Drittel dieser Kinder kann als erheblich gefährdet gelten. Bei diesen Leistungen der Jugendämter schwingt schon das staatliche Wächteramt mit, obwohl die Eltern sie freiwillig in Anspruch nehmen. Die Jugendämter sind damit auch sehr erfolgreich. Doch müssen Hinweise auf Gefährdung des Kindeswohls in Zukunft noch sorgfältiger überprüft werden: Geschwisterkinder müssen mit angesehen werden, und wenn ein Kind bei Hausbesuchen wiederholt nicht da ist, ist dies ein Warnsignal. Die staatlichen Institutionen und die freien Träger müssen mehr zusammenarbeiten; Polizei, Justiz und Psychiatrie dürfen nicht dämonisiert werden. Wir werden künftig auch mehr Kinder sehen, die aufgrund einer richterlichen Anordnung in eine Kita oder andere Einrichtung gehen.

Gibt es also eine Bewegung weg von den Eltern hin zu mehr Kinderrechten?

Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte das so aussehen, die Wirklichkeit ist sehr widersprüchlich. Wir sehen eine paradoxe Entwicklung. Es gibt die Idee: Wir werten die Elternrechte weiter auf und machen sie somit stärker. Es fehlt die Einsicht, dass es eine ziemlich geringe Anzahl von Eltern gibt, die es nicht schaffen, auch wenn sie Hilfe bekommen.

Welche Verantwortung trägt das soziale Umfeld - Großeltern, Nachbarn - gegenüber verwahrlosten Kindern?

Bei Eltern, die mit ihren Kindern überfordert sind und sich Hilfen verschließen, sind auch Großeltern und Nachbarn hilflos. Ihnen bleibt nur übrig, sich mit ihren Sorgen ans nächste Jugendamt zu wenden. Dort könnten sie leider auf Mitarbeiter stoßen, die bei ihnen, den sogenannten Fremdmeldern, das Problem sehen und nicht bei den Eltern, die sie "denunzieren". Sicher wird es Fälle von Fehlalarm geben. Aber lieber einmal zu viel kontrolliert, als ein Kind zu übersehen. Die meisten Eltern werden dafür Verständnis haben.

INTERVIEW: HEIKE HOLDINGHAUSEN

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