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FamilienchronikDer Epochenpanoramiker

Kommentar von Alexander Cammann

Als Kind wollte Walter Kempowski "Archiv" werden. Nun widmet die Akademie der Künste dem Schriftsteller und seiner riesigen Sammlung.

Der Schriftsteller Kempowsiki auf einer Lesung 2003 Bild: DPA

F rühmorgens um halb sechs wurde Walter Kempowski verhaftet. Er lag noch im Bett in der elterlichen Wohnung, als am 8. März 1948 vier Männer vom sowjetischen Geheimdienst in die Augustenstraße 90 in Rostock kamen. Am 20. August wird der 19-Jährige zusammen mit seinem Bruder Robert vom sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Seine Mutter Margarete wird im September abgeholt. Wegen "Nichtanzeigens von Agenten eines ausländischen Nachrichtendienstes" bekommt die 52-Jährige zehn Jahre Zuchthaus.

Verheerungen hatte es schon zuvor reichlich gegeben. Das alte Rostock, die Welt der Kindheit, verbrannte Ende April 1942 im Bombenhagel. Vater Karl Georg Kempowski fiel noch wenige Tage vor Kriegsende in Ostpreußen. Irgendwie hatten sie es überstanden. Doch nun, kurz bevor die übriggebliebenen Kempowskis in den Westen fliehen wollten, schien alles vorbei. Die bürgerliche Existenz am Ende, nicht einmal Verfall einer Familie, sondern Untergang. Nach Verhören und Schlägen, nach drei Tagen nackt im "Wasserkarzer", von Wärtern immer wieder mit eiskaltem Wasser übergossen, hatte Walter Kempowski versucht, sich in seiner Einzelzelle das Leben zu nehmen.

Wenn nun heute Abend, fast sechs Jahrzehnte danach, in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz die Ausstellung "Kempowskis Lebensläufe" eröffnet wird, wenn dann der schwer an Krebs erkrankte Walter Kempowski - vielleicht, hoffentlich - anwesend ist, um das Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler und die Laudatio seines Kollegen Martin Mosebach zu hören - dann hat sich im Jahr 2007 für den Schriftsteller eine damals unausdenkbare Zukunft erfüllt. Das Wunder des Walter Kempowski wird noch einmal vorgeführt.

Vor zwei Jahren hatte die Akademie der Künste das Archiv des Schriftstellers und manischen Sammlers erworben. Die enorme Menge an Material füllt 500 Regalmeter, die sich in drei Bereiche unterteilen. Da wäre einmal das klassische, persönlich-literarische Archiv: Manuskripte, Notizen, Briefe, Tagebücher, persönliche Zeugnisse und Gegenstände. Daneben existiert Kempowskis berühmte Sammlung privater Lebensläufe, die ständig anwächst: 8.000 autobiografische Dokumente unterschiedlichster Art. Schließlich die Fotosammlung: 300.000 Amateurfotografien zeigen den deutschen Alltag seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese unzähligen Erinnerungen liefern den Stoff, aus dem die Bücher Walter Kempowskis gemacht sind. Schon als Kind hatte er seine seltsame Neigung offenbart: "Ich will Archiv werden" - so lautete sein Berufswunsch. Die großartige Ausstellung "Kempowskis Lebensläufe" zeigt nun erstmals anhand von 1.600 Exponaten, wie dieser Wunsch sich im Laufe eines Lebens in Werke verwandelte.

Am Anfang war Bautzen. Acht Jahre verbrachte Kempowski nach seiner Verurteilung in dem berüchtigten Zuchthaus. In kleinen, die Zellen symbolisierenden Kammern wird diese Zeit präsentiert: sein Foto (Häftlingsnummer 8-25-2203), seine Zuchthausstiefel, seine Zeichnungen des Knastalltags. "Ich bin frei": Dieses Telegramm schickte er nach vorzeitiger Haftentlassung am 7. März 1956 an seine bereits früher freigekommene Mutter. Damit begann im Westen der Neuanfang. Bewegt betrachtet man die Fotos der glücklich auf einem Hamburger Sofa wiedervereinten Familie vom Herbst 1956, nachdem auch Bruder Robert entlassen worden war.

Einst ein systematischer Schulschwänzer, wird Kempowski Volksschullehrer in der niedersächsischen Provinz. Und er beginnt daneben einen dreizehnjährigen Leidensweg zum ersten Buch. Es verarbeitet seine Häftlingserlebnisse: "Im Block" erscheint, vielfach umgeschrieben, 1969 bei Rowohlt.

Zu dieser Zeit trieb ihn schon lange seine Familiengeschichte um. Dieser Stoff wollte Literatur werden. "Buchidee. Meine Familie, mit Sonde in die Vergangenheit", notierte er 1961. Der große Saal der Ausstellung führt in den Kosmos der "Deutschen Chronik", jenen Romanzyklus, mit dem Kempowski bekannt werden sollte. Das Schicksal seiner Rostocker Familie seit dem 19. Jahrhundert erzählte er im Laufe der Siebzigerjahre in "Tadellöser & Wolff", "Uns gehts ja noch Gold", "Ein Kapitel für sich". Immer wieder helfen ihm Objekte bei seiner schriftstellernden Imagination der Vergangenheit. Zu sehen sind die Zinnsoldaten, mit denen der kleine Walter spielte, sowie die Modelle der Schiffe, die der Reederei des Vaters gehörten. Und Kempowski bastelt 1976 sogar ein Papiermodell seiner alten Heimatstadt Rostock. Alles wird fotografiert, notiert, protokolliert; jede alte Postkarte kommentiert. Alles will aufbewahrt sein, um es dem Vergessen zu entreißen.

Kempowskis Fülle und Kempowskis Fleiß sind enorm. Vor allem aber demonstriert diese Ausstellung: Hier hat jemand unendlich viel zu erzählen. Das unterscheidet ihn von den Stuckrad-Barres dieser Welt, die sich heute so gerne in seiner Nachfolge sehen, um sich über eigene Leere hinwegzutrösten. Als konservativer Spießbürger wurde er in den Siebzigern verkannt: "Buchhalter" und "Kleinigkeitskrämer" (FAZ), "Eine etwas verwaschene, reichlich geschwätzige Lakonie" (Robert Gernhardt). Heute herrscht hingegen ein oft unreflektiertes Kempowski-Fieber. Bleiben wir Kempowski-nüchtern: Es gibt Größere in der deutschen Literatur nach 1945 und er schuf keine Weltliteratur. Dennoch ist die immense Bedeutung dieses literarischen Außenseiters für die kulturelle Erinnerungslandschaft hierzulande trotz aller oberflächlichen Euphorie noch zu wenig im Bewusstsein. Das 19. und 20. Jahrhundert wird man künftig wesentlich mit Kempowski und in dessen weitgespanntem literarischem Kosmos lesen lernen.

Zu sakral wird es dennoch im vierten Raum der Ausstellung. Aus Lautsprechern ertönen die Stimmen von Mitgliedern der Akademie, von Katharina Thalbach über Wim Wenders bis hin zu Ulrich Matthes und Durs Grünbein. Sie lesen in einer Endlosschleife aus Kempowskis "Echolot", jenem Mega-Erinnerungsprojekt, dessen erste vier Bände von 1993 die Kempowski- Renaissance auslöste.

Der letzte Raum widmet sich schließlich den biografischen Zeugnissen. Am 14. März 1978 hatte er im Tagebuch notiert: "Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen". Alsbald inserierte er in Zeitungen ("Ich suche Biographien jeder Art") und stöberte auf Flohmärkten. In den Vitrinen mit Schubladen entdeckt man Poesiealben, Tagebücher, Liebes- und Feldpostbriefe. Das Programm der Hochzeitsfeier von Frieda Fischer und Ernst Schmidt von 1899 kann man studieren, ebenso das Tagebuch des Flaksoldaten Hans-Henning Teich, geführt an der Ostfront auf der Krim 1943. Das "Gammelbuch" einer jungen Berliner Verkäuferin 1971/72 offenbart ein fröhliches Lotterleben ("Noch einmal früh aufgestanden. Am Hermannplatz ins Löweneck. Dort einige Bier getrunken. Danach wieder nach Hause, erst mal gepennt."). Die Papptafel eines Obdachlosen aus den Neunzigern schildert existenzielle Not.

Kempowski, der einstige Kirchenchorleiter im Bautzener Zuchthaus, dirigiert zahllose individuelle Stimmen der Vergangenheit. Und an den Wänden bekommt die Geschichte Gesichter, in einer unendlichen Reihung von privaten Fotografien seit 1860: Porträts, Weihnachtsbäume, Schützengräben, Panzer, stolze Autobesitzer, glückliche Urlauber - ein eindrucksvolles Epochenpanorama.

Wer mit dem Fahrstuhl in die Untergeschosse des Akademiegebäudes hinabfährt, der stößt dort auf Baustellen und leere Hallen: kalter Beton im Halbdunkel, roh und archaisch. Es sind künftige Archivkeller, bestimmt für die Sektion Bildende Kunst. Dennoch wirken sie heute wie ein Gleichnis für Kempowskis Archivunterwelt: ein ständig wachsendes Bauwerk hinein in die Vergangenheit, das ewig unfertige Fundament für die Gegenwart oben - ein umgekehrter Turm zu Babel, dessen berühmtes Bild Kempowski 1975 auf seine Übersichtstafel zum Roman "Ein Kapitel für sich" gepinnt hatte. Und es geht weiter. Kürzlich 78 Jahre alt geworden, schreibt der öffentliche Kranke im Wettlauf gegen die Zeit an seinem neuen Roman. Ein Gedichtzyklus über die Zeit in Bautzen soll posthum erscheinen. Drei ihm noch verbleibende Monate hatten die Ärzte im Herbst prognostiziert. Das nahe Ende hat er vor Augen.

Hier, in diesen Räumen, haben sich Lebensweg und Lebenswerk Walter Kempowskis bereits gerundet. Es ist vollbracht. "Ich bin frei" lautet die Botschaft, wie 1956. Und der Ausstellungsbesucher darf wie Mutter Kempowski in "Tadellöser & Wolff" den Kopf schütteln und ehrfürchtig staunen: "Wie isses nun bloß möglich "

"Kempowskis Lebensläufe", 20. Mai - 15. Juli, Di-So 11-20 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz 4; Begleitbuch Dirk Hempel: "Kempowskis Lebensläufe". Hrsg. von der Akademie der Künste, Berlin 2007, 200 Seiten, 19,90 ¤

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